Bewohnerinnen und Bewohner des ukrainischen Ortes Prokowsk steigen in den Zug
IMAGO/ZUMA Wire/Hector Adolfo Quintanar Perez
Zwei Jahre Ukraine-Krieg

„Ultramarathon ohne sichtbares Ende“

Als sich der russische Überfall auf die Ukraine zum ersten Mal gejährt hat, hat ORF.at mit Karolina Lindholm Billing gesprochen, die das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) in der Ukraine vertritt. Ein Jahr später schildert sie, wie die humanitäre Katastrophe im Land langsam aus dem Blick der Weltöffentlichkeit verschwindet und die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Bevölkerung an ihre Grenzen gelangt.

Eine der signifikantesten Veränderungen im Vergleich zum Vorjahr sei, „dass die Menschen müder sind“, sagt Billing. Zwar sei „die Widerstandsfähigkeit, für die die Ukrainer und Ukrainerinnen weltweit bekannt sind“, immer noch vorhanden, doch zwei Kriegsjahre hätten an ihnen gezehrt. „Niemand weiß, wann und wie der Krieg enden wird. Und mit dieser Unsicherheit ist es schwer zu leben.“

Der Krieg sei definitiv kein Sprint, nicht einmal ein Marathon, sagt die seit bald drei Jahren in der Ukraine stationierte UNHCR-Vertreterin. Am ehesten sei er mit einem Ultramarathon zu vergleichen, aber mit einem, dessen Ende nicht absehbar sei. „Wenn du das Ziel erreichst, weißt du nicht, ob sie nicht noch weitere zehn Kilometer hinzufügen. (…) Und du kannst nicht erkennen, wann die nächste Versorgungsstation kommt, wo man dir ein Getränk und eine Banane gibt. Sich mental darauf einzustellen ist unglaublich herausfordernd.“

Die Betroffenen seien vielfach ältere Menschen, Kriegswitwen, Kriegsversehrte. „Und sie müssen auch laufen. Sie können nicht einfach sitzen bleiben und sagen: ‚Okay, ich warte, bis es vorbei ist, und dann überlege ich mir, was ich als Nächstes mache.‘“

Drei Frauen reden miteinander in ukrainischer Ortschaft
UNHCR/Elisabeth Arnsdorf Haslund
Billing (ganz rechts) prüft in den Frontgebieten den zielgerichteten Einsatz der UNHCR-Hilfen

Unterstützung schwindet

„Es gibt weniger Unterstützung“, nennt Billing eine der weiteren Veränderungen im zweiten Kriegsjahr. Die Eskalation in Nahost etwa habe „großen Einfluss auf die Welt gehabt, die offenbar nur in der Lage ist, sich auf eine Krise auf einmal zu konzentrieren“. 2022 sei es noch so gewesen, dass viele warnten, man solle sich nicht nur auf die Ukraine konzentrieren und andere Konfliktherde dabei vergessen. „Zwei Jahre später sagen wir: Lasst uns die Ukraine nicht vergessen!“

Die Menschen in der Ukraine würden sehr genau verfolgen, wie es um die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft steht, wie etwa die Entscheidungsfindung über weitere Militärhilfe in den USA verläuft. Das Gefühl, nicht allein zu sein, gebe vielen erst Auftrieb weiterzumachen.

Normalität im Abnormalen

Den Alltag in Kiew beschreibt Billig so: „Wenn es keinen Luftalarm gibt, könnte man fast denken, dass es keinen Krieg in diesem Land gibt“, das liege wohl an der menschlichen Anpassungsfähigkeit. „Aber dann erkennt man gleichzeitig, wie abnormal es ist, in einem Krieg zu leben.“

Schulkinder in Charkiv
UNHCR/Elisabeth Arnsdorf Haslund
Die Stadtverwaltung von Charkiw hat im U-Bahn-System eine Reihe von Schulen eingerichtet

In Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, seien unterirdische Schulen errichtet worden, damit Kinder wieder zusammenkommen können, anstatt online zu lernen. „In gewisser Weise ist es sehr schön, die Kinder sind glücklich dort. Andererseits ist es unglaublich traurig zu sehen, wie sie unterirdisch lernen müssen, ohne Tageslicht, um nicht in Gefahr zu geraten, getötet zu werden.“

Viele der Kinder zählen zu den rund vier Millionen Binnenvertriebenen in der Ukraine. Die Menschen mussten ihren gesamten Besitz zurücklassen, eine neue Existenz gründen. Nicht nur finanziell sei das eine enorme Belastung, sagt Billing. Die Tatsache, dass die Vertriebenen nicht wissen, ob ihr neues Umfeld, ihre neuen Jobs dauerhaft sind oder eine Rückkehr möglich wird, sei psychisch schwer zu verkraften.

Zerstörtes Gebäude in ukrainischer Stadt
UNHCR/Diana Zeyneb Alhindawi
Die Verwüstungen sind im zweiten Kriegsjahr nicht weniger geworden, im Gegenteil

Dazu komme, dass der Krieg teils „intensiver als vor einem Jahr“ sei. „In vielen Teilen der Ukraine einschließlich der Orte, in die die Menschen geflohen sind, gibt es mehrmals täglich Luftalarme. Es gibt Angriffe, auch in Kiew, auch in Lwiw.“ Vergangene Woche etwa seien in Lwiw die Fenster in der Bleibe eines ihrer UNHCR-Kollegen durch die Wucht eines Angriffs geborsten.

Kriegshandlungen in der Ukraine (und auf der Krim, die 2014 von Russland annektiert wurde) von 24.2.2022 bis 16.2.2024 laut Konfliktbeobachtungsstelle ACLED nach Art der Gefechte

Rückkehrabsichten vorhanden, aber abnehmend

Einer aktuellen UNHCR-Erhebung zufolge habe die Mehrheit der befragten ukrainischen Binnenvertriebenen und Flüchtlinge nach wie vor den Wunsch, eines Tages zurückzukehren. Doch der Anteil gehe mit jedem weiteren Kriegsmonat zurück. Entscheidend sei, sagt Billig, ob noch Familienmitglieder in der alten Heimat und die einstigen Wohnungen intakt seien.

Eine Studie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Wirtschaftsuniversität Wien ergab unlängst, dass Nachbarländer der Ukraine wie Polen von den Geflüchteten aufgrund der geografischen Nähe gewählt wurden, während bei weiter westlich gelegenen Aufnahmeländern die hohe Lebens- und Wohnqualität relevant war. Entsprechend größer ist in letzteren Ländern die Bereitschaft zu bleiben.

Zerstörte Küche in Ukraine
UNHCR/Andrew McConnel
Eine der Prioritäten des UNHCR in der Ukraine ist die Instandsetzung von zerstörten Wohnstätten

Weiter riesiger Finanzbedarf

Das UNHCR unterstützt Menschen in der Ukraine in mehreren Bereichen, von Bargeldhilfe bis zu Rechtsberatung bei verschwundenen oder in Kampfgebieten schwer erhältlichen Dokumenten. Die Bereitstellung von Notunterkünften und die Reparatur von beschädigten Häusern und Wohnungen ist eine der Prioritäten, seit Kriegsbeginn wurden etwa 28.000 Wohnstätten wieder instand gesetzt.

Der Finanzbedarf ist nach wie vor enorm: Um den Menschen in der Ukraine und in den Nachbarländern Notfallversorgung, Schutz, Unterkünfte und Bargeldhilfen zur Verfügung stellen zu können, benötigt das UNHCR 2024 laut einer aktuellen Mitteilung 993,3 Millionen US-Dollar (knapp 920 Mio. Euro). „Wenn wir nicht rechtzeitig Mittel erhalten, könnten wir gezwungen sein, wesentliche Aktivitäten in der Ukraine und in den Nachbarländern einzuschränken“, heißt es darin.

„Früher haben alle über die Ukraine geschrieben, aber jetzt nicht mehr“, beschließt Billing das Gespräch – nicht ohne sich „bei den Menschen in Österreich und der Regierung von Österreich für die Unterstützung zu bedanken, die ihr leistet.“ Zu wissen, dass man nicht allein ist, sei eben entscheidend.