Gang-Mitglied in Port-au-Prince
Reuters/Ralph Tedy Erol
Bandengewalt

Gesundheitssystem in Haiti kollabiert

Haiti kämpft weiter mit einer Welle der Bandengewalt. Am Sonntag wurde eine Kirche in der Hauptstadt Port-au-Prince von Bewaffneten angegriffen. Der Zerfall der staatlichen Ordnung hat verheerende Folgen für die Zivilbevölkerung. Das Gesundheitssystem in der Hauptstadt Port-au-Prince „ist sprichwörtlich zusammengebrochen“, sagt der deutsche Internist Tankred Stöbe, der als medizinischer Koordinator von Ärzte ohne Grenzen im Karibik-Staat tätig war. In der Metropole gebe es nur noch ein einziges funktionierendes öffentliches Spital.

Kriminelle Banden beherrschen Teile der Metropole. Am Sonntag berichteten haitianische Medien über einen Angriff auf die Erste Baptistenkirche, eine der ältesten Kirchen der Hauptstadt. Das Gebäude sei geplündert worden. Ende vergangener Woche wurde ein berühmter Wettermoderator von Unbekannten entführt.

Fast 1,3 Mio. Menschen leben in Port-au-Prince. Die Sicherheitslage macht auch dem Gesundheitspersonal zu schaffen. Der Weg in die Arbeit kann lebensgefährlich sein. Viele bleiben aus Angst zu Hause, zudem hätten zahlreiche Ärztinnen und Ärzte das Land verlassen, berichtet Stöbe, der seit über 20 Jahren für Ärzte ohne Grenzen im Einsatz ist und mehrere Jahre Präsident der deutschen Sektion der Hilfsorganisation war.

Rettungswesen „nicht mehr existent“

Auch das Rettungswesen existiert nicht mehr. „Rettungsdienste, wie wir sie kennen, mit einer Notrufnummer, die wir anrufen und dann kommt ein Ambulanzfahrzeug, gibt es in Haiti nicht“, sagt der Internist und Notfallmediziner. Die Menschen müssen die Fahrt in die Klinik selbst organisieren.

Frau mit Kind vor brennender Straßenbarrikade in Port-au-Prince
APA/AFP/Clarens Siffroy
In Port-au-Prince ist die staatliche Ordnung zusammengebrochen, viele Stadtteile sind von Gewalt erschüttert

Ein noch größeres Problem sei es, überhaupt durch die Stadt zu kommen. Spätestens bei Einbruch der Dunkelheit „verbarrikadieren sich die Menschen in den einzelnen Stadtvierteln“. Straßenzüge seien nicht mehr passierbar. Vielerorts haben sich Bürgerwehren gebildet. Mutmaßliche Gangmitglieder werden auf offener Straße getötet, ihre Leichen verbrannt. Seit dem Vorjahr dürfte es Hunderte Fälle von Lynchjustiz in Haitis Hauptstadt gegeben haben.

Premier aus Amt gezwungen

Haiti ist seit geraumer Zeit geprägt von Armut und Gewalt. Die Lage verschärfte sich im Februar während einer Auslandsreise von Ministerpräsident Ariel Henry. Bewaffnete Banden übernahmen die Kontrolle über Teile der Hauptstadt Port-au-Prince, attackierten Polizeiposten und befreiten Tausende Häftlinge aus Gefängnissen.

Die Kriminellen forderten den Rücktritt des seit 2021 regierenden Henry, der eigentlich Anfang Februar aus dem Amt des Premiers hätte scheiden sollen. Im März trat Henry schließlich zurück. Die EU und die USA zogen ihr diplomatisches Personal ab, die Vereinten Nationen brachten einen Großteil ihrer Beschäftigten außer Landes.

Kein Kanal, kein Wasser, kein Strom

Rund 1.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der überwiegende Teil davon aus Haiti, sind aktuell für Ärzte ohne Grenzen tätig. Die Hilfsorganisation betreibt zwei Kliniken in Port-au-Prince. Eine davon hat einen chirurgischen Schwerpunkt. Behandelt würden überwiegend Zivilpersonen mit Schussverletzungen, die „zur falschen Zeit am falschen Ort waren“ und deswegen ins Kreuzfeuer geraten seien, sagt Stöbe. In der Einrichtung gibt es zudem eine eigene Einheit, die auf die Versorgung schwerer Brandwunden spezialisiert ist.

Arzt behandelt Patienten
Tankred Stöbe/MSF
Tankred Stöbe in einer Klinik von Ärzte ohne Grenzen in Haiti

In der anderen Ambulanz werden Kinderkrankheiten, Atemwegs- und Durchfallerkrankungen behandelt. „Es gibt keine Kanalisation, keine Wasserversorgung, keine Elektrizität, das macht die Menschen auch vulnerabel für Durchfallerkrankungen“, sagt der Mediziner. Nach dem schweren Erdbeben im Jahr 2010 brach im Land eine Choleraepidemie aus, die bis 2019 andauerte.

Mord vor Klinik

Eine der Kliniken liegt in der Cite Soleil, einem der größten Slums der westlichen Hemisphäre. Auf einer Fläche von fünf Quadratkilometern leben hier Schätzungen zufolge bis zu 400.000 Menschen unter prekären Bedingungen. In dem Stadtteil im Norden von Port-au-Prince „ist die Bandengewalt so schlimm, dass es die Menschen oft gar nicht mehr in die Kliniken schaffen“, sagt Stöbe, der im Jänner als medizinischer Koordinator an Ort und Stelle war. Vergangenes Frühjahr musste die Hilfsorganisation ihr Spital in der Cite Soleil kurzzeitig schließen, nachdem ein Patient unmittelbar außerhalb des Gebäudes getötet wurde.

Polizeipatrouille in Port-au-Prince
IMAGO/MAXPPP
Die Polizei hat die Kontrolle über viele Stadtviertel von Port-au-Prince verloren

Außerhalb von Haitis Hauptstadt sei die Lage für die Menschen ein wenig besser, sagt Stöbe. Über 2,6 der rund elf Mio. Haitianerinnen und Haitianer leben in Port-au-Prince und im Ballungsraum um die Metropole. Die Hauptstadt einfach zu verlassen ist nicht möglich. Banden kontrollieren laut Stöbe die Zu- und Ausfahrtsstraßen.

Flughafen und Hafen sind derzeit gesperrt, „was es uns schwermacht, Medikamente und medizinische Geräte ins Land zu bringen“, sagt Stöbe. Auch neue internationale Mitarbeitende „nach Haiti rein- oder rauszubringen, ist kaum möglich“.

Keine sicheren Orte in Haitis Hauptstadt

In Haiti haben kriminelle Banden die Kontrolle über den Großteil der Hauptstadt übernommen, Zehntausende Menschen sind bereits aus Port-au-Prince geflüchtet. Die UNO warnt, dass die Krise auf der Karibik-Insel kaum noch zu bewältigen ist. Was das für die Bevölkerung dort heißt, erläutert Caritas-Projektmanagerin Daniela Pamminger, die schon oft in Haiti war.

Sorge bereitet Stöbe auch die Situation der Binnenvertriebenen. Über 362.000 Menschen sind nach Angaben der UNO vor der Gewalt innerhalb des Landes geflohen, 50 Prozent davon Kinder. Fast die Hälfte der gesamten Bevölkerung Haitis leidet unter Hunger.

Navigieren in schwierigem Terrain

Die Beschäftigten von Ärzte ohne Grenzen navigieren durch heikles Terrain. Die Hilfsorganisation ist seit dem Jahr 1991 im Karibikstaat tätig und habe sich einen „guten Ruf“ aufgebaut, sagt Stöbe. Direkte Attacken auf Beschäftigte seien selten, „kommen aber leider durchaus vor“, sagt er.

Mehr und mehr zur Herausforderung werde die zunehmende Zersplitterung der Gangs. „In der Vergangenheit waren es vor allem zwei Banden, die sich die Stadt mehr oder weniger unter sich aufgeteilt haben“, so Stöbe, mittlerweile seien es Dutzende. „Deren Identität und Einflussbereiche nachzuvollziehen ist für uns kaum noch möglich.“