Demonstrantinnen vor der EGMR
AP/Jean-Francois Badias
Klimaurteil

Fachleute rechnen mit Folgen für Österreich

Die Verurteilung der Schweiz wegen mangelnden Klimaschutzes durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) könnte sich auch auf Österreich auswirken. „Das hat zur Konsequenz, dass dieses Recht auf Klimaschutz nun auch in Österreich gilt“, sagte Europa- und Völkerrechtler Walter Obwexer am Mittwoch zu Ö1. Verfassungsjurist Peter Bußjäger rechnet künftig mit mehr Klimaklagen.

Die Verurteilung der Schweiz sieht Obwexer als „bahnbrechend“ an. Die 17 Richterinnen und Richter in Straßburg gaben einer Gruppe Schweizer Seniorinnen am Dienstag recht, die ihrer Regierung vorwerfen, nicht genug gegen den Klimawandel zu tun. Zwei weitere Klagen aus Frankreich und Portugal wies das Gericht als „unzulässig“ ab.

„Der Verfassungsgerichtshof orientiert sich in seiner Judikatur an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte“, erklärte Obwexer. „Das hat zur Konsequenz, dass dieses Recht auf Klimaschutz auch in Österreich gilt, aus Artikel 8 EMRK abgeleitet“, sagte der Experte im Ö1-Morgenjournal. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wurde 1964 in Österreich in Verfassungsrang gehoben. Artikel 8 der Menschenrechtskonvention schreibt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens fest.

Experte: Gerichte müssen Klagevoraussetzungen lockern

Gerichte hierzulande müssten infolge des Urteils ihre verhältnismäßig strengen Voraussetzungen für Klagen lockern und Klimaaktivistinnen und -aktivisten bzw. Organisationen leichteren Zugang geben, hielt der Experte zudem fest. Bisher habe es „durchaus strenge“ Voraussetzungen für Klagen gegeben. Kläger, die nachweisen können, dass sie einen Schaden erleiden, weil Klimaschutzmaßnahmen nicht getroffen wurden, könnten beim EGMR „Schadenersatz beantragen“, sagte Obwexer außerdem.

Ob es in Österreich ein – von vielen Expertinnen, Experten und Organisationen schon seit Jahren gefordertes – gültiges Klimaschutzgesetz gebe, sei hingegen unerheblich. In der EU gelten ohnehin klare Vorgaben zur Eindämmung des menschengemachten Klimawandels, und die Mitgliedsstaaten seien daran gebunden. Wenn der eigene Staat keine entsprechenden Maßnahmen setze, könne gerichtlich dagegen vorgegangen werden.

Disput um Nationalen Energie- und Klimaplan

Außerdem sei jeder EU-Staat verpflichtet, einen Nationalen Energie-und Klimaplan (NEKP) vorzulegen, so Obwexer. In Österreich herrscht innerhalb der Regierung ein Disput über das entsprechende Papier. Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) hatte einen Vorentwurf nach Brüssel geschickt, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) zog ihn kurz danach wieder zurück.

Die EU-Kommission leitete daher ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich ein, was zu hohen Strafzahlungen führen könnte. In den jeweiligen NEKPs skizzieren die EU-Mitgliedsstaaten, wie sie ihre Energie- und Klimaziele bis 2030 erreichen wollen. Der finale Klimaplan muss bis Juni 2024 bei der EU-Kommission eingereicht werden.

Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) sieht das Urteil als „Unterstützung“ an. Sinnvoll sei es allemal, wenn mehr weitergehe, meinte er am Rande des Ministerrats. Gleichzeitig machte er klar, dass es wirkungsvoller wäre, wenn entsprechende Regelungen auch außerhalb des europäischen Raums vollzogen werden. Dass in der Koalition noch immer keine Verständigung auf ein Klimaschutzgesetz gelungen ist, sieht er nicht als Beleg dafür, dass in Österreich auf diesem Gebiet nichts weitergehe.

Österreicher sieht Recht auf Gesundheit verletzt

Die Rechtsanwältin und Expertin für Klimaklagen Michaela Krömer sprach unterdessen von einem „historischen Wendepunkt“. „Es ist deshalb historisch, weil der Gerichtshof klargemacht hat, dass Klimaschutz ein Menschenrecht ist.“ Historisch sei auch, dass internationale Gerichte Klimaklagen und deren Bedeutung nun ernst nehmen. Und dass der EGMR die Staaten zu mehr Klimaschutz verpflichte und diese auch ein Rechtssystem schaffen müssten, in dem Klimaschutzmaßnahmen einforderbar sind.

Krömer vertritt unter anderen einen Mann mit Behinderung, der bei einer Temperatur ab 25 Grad auf den Rollstuhl angewiesen ist und sein Recht auf Gesundheit verletzt sieht. Der Verfassungsgerichtshof wies die Klage ab. Der Mann klagt deshalb vor dem EGMR. Krömer ortet angesichts des Urteils für die Schweiz gute Chancen auf Erfolg. Er erfülle alle Kriterien, die auch im Schweizer Fall angewendet wurden, sagte sie zu Ö1.

Krömer vertritt auch jene Jugendliche, die mit ihrer Klimaklage aus formellen Gründen vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) abgewiesen wurden. Einige davon reichten im vergangenen November erneut eine Klage ein. Ob diese nun höhere Chancen auf Erfolg habe, sei unklar – die Jugendlichen sehen ihre Kinderrechte und Zukunft durch fehlende Maßnahmen für den Klimaschutz gefährdet. Diese sind allerdings keine Rechte der Menschenrechtskonvention.

„Orientierungswirkung gegenüber Österreich“

„Das Urteil hat zwar keine Bindungs-, aber eine Orientierungswirkung gegenüber Österreich“, sagte Birgit Hollaus vom Institut für Recht und Governance der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien gegenüber den „Salzburger Nachrichten“ am Mittwoch. Generell sei klargestellt worden, dass „Menschenrechte auch eine Klimadimension“ haben. Auch im Klimaschutzministerium werde bereits mit Auswirkungen auf weitere Verfahren durch das Urteil gerechnet: „Die Chancen auf erfolgreiche weitere Klimaklagen haben sich sicherlich erhöht“, heißt es.

Daniel Ennöckl vom Institut der Rechtswissenschaften an der Universität für Bodenkultur (BOKU) bezeichnet das Urteil des EGMR als einen Meilenstein für den Klimaschutz in Europa. „Weil damit klar zum Ausdruck gekommen ist, dass, wenn ein Staat seine Politik nicht an der Einhaltung des Zweigradziels ausrichtet, er die Grund- und Freiheitsrechte seiner Bürgerinnen und Bürger verletzt.“ Ennöckl erwartet, dass es nun eine weitere Welle an Klagen geben werde.

Verfassungsjurist Bußjäger: „Druck auf Politik erhöht“

Der Einschätzung schließt sich der Verfassungsjurist Peter Bußjäger an. Das Urteil „wird den Druck auf die Politik insgesamt erhöhen, sowohl auf der Bundesebene als auch auf der regionalen, auf der Landesebene“, so Bußjäger gegenüber ORF Vorarlberg. Die konkreten Folgen des Urteils seien allerdings noch schwer abschätzbar, sagte er – mehr dazu in vorarlberg.ORF.at.

Die NGO Global 2000 sieht in dem Urteil einen „wichtigen Schritt in Richtung Klimagerechtigkeit“. „Wir hoffen, dass das Urteil dazu führt, dass auch die Politik in Österreich aufwacht und stärkere Maßnahmen ergreift“, so Johannes Wahlmüller, Klima- und Energiesprecher der NGO, in einer Aussendung. Eine Klage von Global 2000, der Gemeinde Stanz im Mürztal und mehreren Einzelpersonen liegt derzeit beim EGMR und wartet auf eine Entscheidung.

Rechtsanwalt Reinhard Schanda, rechtlicher Vertreter der NGO und der Mitklägerinnen und Mitkläger, sieht Parallelen zwischen den beiden Klagen: Der EGMR habe im Sinne der Kläger entschieden, weil „die Schweiz keine ausreichenden Klimaschutzmaßnahmen vorweisen konnte. Ich halte es daher für wahrscheinlich, dass auch Österreich am Maßstab der vom EGMR dargelegten Kriterien keine ausreichenden Klimaschutzmaßnahmen nachweisen kann.“