Flüchtlinge auf der Insel Lesbos in Griechenland
APA/AFP/Louisa Gouliamaki
EU-Asylreform

„Der Berg hat eine Maus geboren“

Die am Mittwoch im EU-Parlament beschlossene Asylreform, die auch eine Eindämmung irregulärer Migration bewirken soll, sorgt bei Fachleuten für Ernüchterung. „Der Berg hat eine Maus geboren“, fasste Migrationsexperte Gerald Knaus am Donnerstag das Ergebnis gegenüber Ö1 zusammen. Ernüchterung herrschte auch bei der Migrationsforscherin Judith Kohlenberger und dem Migrationsexperten Lukas Gahleitner-Gertz.

Knaus schloss im Ö1-Mittagsjournal aus, dass die Solidarität in der EU mit dem Paket zunehmen wird. Er erwartet auch nicht, dass „die Zahl der irregulär über das Mittelmeer kommenden Menschen“ sowie die Zahl der Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, sinken wird. „Vieles, was hier beschlossen wurde, wird auch nicht umgesetzt werden“, sagte der Autor und Vorsitzende der Denkfabrik Europäische Stabilitäts-Initiative (ESI). „Die Schlüsselprobleme wurden nicht gelöst“, so Knaus.

In dieselbe Kerbe schlug Gahleitner-Gertz vom Verein asylkoordination. Er bezeichnete das Paket auf X (Twitter) als „politisches Zeichen“, jedoch als „keine Lösung“. Der Pakt sei weder historisch noch zukunftsweisend, sagte auch Kohlenberger von der Wirtschaftsuniveristät Wien am Mittwoch im ZIB2-Interview.

Reform: Schnellverfahren an Grenzen und mehr Solidarität

Im Kern sieht das Paket einheitliche Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen vor. Geplant ist insbesondere ein deutlich härterer Umgang mit Menschen aus Ländern, die als relativ sicher gelten. Bis zur Entscheidung über ihren Asylantrag dürfen sie unter haftähnlichen Bedingungen in Auffanglagern untergebracht werden. Abgelehnte Asylwerberinnen und -werber sollen künftig leichter in sichere Drittstaaten abgeschoben werden können.

In Zukunft wird zudem ein „Solidaritätsmechanismus“ eingeführt: Länder, die keine Geflüchteten aufnehmen wollen, müssen ausgleichende Unterstützung leisten, etwa in Form von Geldzahlungen. Bei der Ankunft besonders vieler Geflüchteter in einem EU-Land soll die „Krisenverordnung“ greifen. Geflüchtete könnten dann länger festgehalten werden. Mit der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 mehrten sich die Rufe nach einer Überarbeitung der geltenden EU-Asylregeln.

„Man hat wieder ein Potemkin’sches Dorf aufgebaut“

Dass sich die seit Jahren umstrittene Verteilungsfrage mit einem Solidaritätsmechanismus lösen ließe, glaubt Knaus nicht. „Der ganze Ansatz, sich darum zu streiten, wie man Menschen innerhalb der EU hin und her schiebt, ohne eine Strategie, wie das funktionieren wird – gegen den Willen der Menschen und vor allem auch gegen den Willen der Staaten –, führt in die Irre“, sagte er zu Ö1. „Man hat wieder ein Potemkin’sches Dorf aufgebaut.“ Wenn sich in drei Jahren herausstelle, dass das keine Lösung sei, dann seien viele der jetzigen Politikerinnen und Politiker „wahrscheinlich nicht mehr im Amt“, sagte er.

„Tatsächlich wird sich wohl nicht viel ändern“, schrieb auch Gahleitner-Gertz auf X. Das Regelwerk sei zu komplex. „Aber es wird brutaler werden. Gleichzeitig wird es Enttäuschung und Frustration geben, weil versprochene Lösungen nicht eintreten werden“, erwartet er. Das Problem sei bisher auch nicht gewesen, dass es keine Regeln gab, sondern dass sich Mitgliedsstaaten nicht daran gehalten hätten.

Kohlenberger ortet „keine demotivierende Wirkung“

„Zentrale Antworten auf wichtige Fragen, die das aktuelle System aufwirft“, würden mit dem Pakt nicht gegeben, unterstrich zuvor Kohlenberger im ZIB2-Interview am Mittwoch, „etwa: Wie kann man Rückführungen forcieren, wenn man mit den Herkunftsländern nicht gesprochen hat? Wie kann man den Druck im System fairer verteilen? Und wie gesagt, vor allem: Wie können wir diese Politik des Sterbenlassens, die derzeit an den Außengrenzen passiert, beenden?“

Kohlenberger: „Reform weder historisch noch zukunftsweisend“

Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien und Vorstandsmitglied des Integrationshauses Wien, zeigte sich von der am Mittwoch im EU-Parlament beschlossenen EU-Asylreform enttäuscht.

Die Reform setze „zu spät“ an, so Kohlenberger außerdem. Aus der Migrationsforschung wisse man, dass Geflüchtete bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie die EU-Außengrenzen erreicht haben, schon „sehr viel investiert“ und große Risiken auf sich genommen hätten. Durch die neuen Regeln sei dann keine „demotivierende Wirkung“ mehr gegeben. „Es gibt einen Wahlspruch vor allem in Ländern südlich der Sahara, der lautet: ‚Europe or death‘, Europa oder der Tod.“

Expertin vermisst „reguläre Zugangsmöglichkeiten“

In der Reform fehle es an „regulären Zugangsmöglichkeiten“, sagte sie auch. „Ich glaube, was diese Reform leider außer Acht lässt, ist, Alternativen zu schaffen für Menschen, die zum Beispiel als Arbeitskraft benötigt werden, aber unter anderem keine Aussicht auf ein schnelles Visaverfahren haben“, so Kohlenberger, die seit Kurzem Vorstandsmitglied des Integrationshauses Wien ist. Geregelte Formen der Zuwanderung seien in der EU durchaus konsensfähig, sagte sie.

Von humanitären NGOs regnete es vor und nach dem Beschluss Kritik: Karl Kopp, Vertreter der deutschen Organisation Pro Asyl im Europäischen Flüchtlingsrat (European Council on Refugees and Exiles, ECRE) ortet einen „historischen Rückschritt“. „Mit ihrer Asylreform setzt die EU nun noch massiver auf Internierungslager, Zäune und Abschiebungen in unsichere Drittstaaten“, so Marcus Bachmann, humanitärer Berater bei Ärzte ohne Grenzen Österreich. Petar Rosandic, Obmann von SOS Balkanroute, kommentierte: „Wer Kinder inhaftiert, hat sich völlig demaskiert! Der Asyldeal ist eine Bankrotterklärung an die europäischen Menschenrechte.“

Spindelegger sieht Übereinstimmung mit Menschenrechten

Der ehemalige Vizekanzler Michael Spindelegger (ÖVP) hält die Pläne hingegen für umsetzbar. In Lagern an der Außengrenze könne man Ankommende im Schnellverfahren überprüfen, sagte er in einem Interview mit dem „Kurier“ (Donnerstag-Ausgabe). Die Verfahren könnten „in Übereinstimmung mit den Menschenrechten, also der Europäischen Menschrechtskonvention“, ablaufen, so der nunmehrige Generaldirektor der Wiener Migrationsdenkfabrik ICMPD.

Für jeden nicht aufgenommenen Geflüchteten könne ein Staat „die entsprechende Ausgleichssumme von 20.000 Euro bezahlen“, so Spindelegger zum „Kurier“: „Praktisch betrachtet ist die Aufnahme der Menschen natürlich viel kostenaufwendiger.“ Er sei „also nicht sicher“, ob die Menschen „auch wirklich unterkommen“, sagte er. Mögliche Probleme sieht Spindelegger bei zusätzlichen Abkommen zwischen einzelnen Ländern, aktuell etwa Italien und Albanien. Die Frage nach den Rückführungsabkommen brauche noch Zeit.

Bis die neuen Regeln tatsächlich umgesetzt werden, wird es jedenfalls dauern: Die Einigung muss noch von den EU-Staaten bestätigt werden – normalerweise eine Formalität. Danach haben die EU-Staaten zwei Jahre Zeit, um das Paket umzusetzen. Das soll vor allem den Staaten an den Außengrenzen ausreichend Zeit geben, um Einrichtungen zur Unterbringung von Menschen aus Staaten mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent zu schaffen.