Ukrainischer Soldat vor Trümmern in Tschassiw Jar
Reuters/Oleksandr Ratushniak
„Erheblich verschlechtert“

Lage in Ostukraine spitzt sich zu

Die militärische Lage im Osten der Ukraine spitzt sich nach Angaben der Armeeführung zu: „Die Lage an der Ostfront hat sich in den vergangenen Tagen erheblich verschlechtert“, sagte Armeechef Olexandr Syrsky am Samstag. Seit der Präsidentschaftswahl in Russland vor einem Monat habe die russische Armee ihre Offensive „deutlich verstärkt“. Die Ukraine wolle daher „die problematischsten Verteidigungszonen mit elektronischer Kriegsführung und Luftverteidigung verstärken“, kündigte Syrsky an.

Bereits vor Tagen hatte die ukrainische Armee von einer „schwierigen und angespannten“ Lage rund um die Stadt Tschassiw Jar gesprochen. Das Gebiet liege „unter Dauerfeuer“. Tschassiw Jar liegt etwa 20 Kilometer westlich von Bachmut, das im Mai nach monatelangen Kämpfen von russischen Truppen erobert wurde.

„Der Feind greift unsere Stellungen in den Sektoren Lyman und Bachmut mit von gepanzerten Fahrzeugen unterstützten Kampfgruppen an“, sagte Syrsky. Im Gebiet Pokrowsk versuchten russische Truppen, die ukrainischen Verteidigungslinien mit Dutzenden Panzern und gepanzerten Truppen zu durchbrechen.

Russische Armee erobert nach eigenen Angaben Dorf

Laut dem Armeechef ist Russland dabei, seine Truppen mit neuen Einheiten zu verstärken. Dadurch erziele die russische Armee „zeitweise taktischen Erfolg“. Nur durch den Einsatz von Hightech-Waffen könne es der Ukraine gelingen, „technische Überlegenheit über den Feind zu erlangen“, mahnte Syrsky: „Nur so können wir einen größeren Feind besiegen und die Bedingungen schaffen, strategisch die Initiative zu ergreifen.“ Zudem müsse die Ausbildung der ukrainischen Soldaten vor allem im Bereich der Infanterie verbessert werden.

Ukrainischer Armeechef Oleksandr Syrsky
APA/AFP/Armed Forces Of Ukraine
Armeechef Olexandr Syrsky befürchtet weitere Verluste für die Ukraine

Die russische Armee eroberte unterdessen nach eigenen Angaben eine Ortschaft nahe der ostukrainischen Stadt Awdijiwka. Das russische Verteidigungsministerium sagte, die Truppen hätten das südlich von Awdijiwka gelegene Perwomajske „befreit“. Russland hatte Awdijiwka im Februar nach langen Kämpfen vollständig unter seine Kontrolle gebracht. Russland meldet seit Wochen regelmäßig Erfolge der eigenen Armee in der Gegend um diese Stadt.

Raketenschlag gegen russisch besetztes Luhansk

Bei Raketenangriffen auf die von russischen Truppen besetzte Großstadt Luhansk wurden offiziellen Angaben zufolge mehrere Menschen verletzt. Einschläge habe es in der Nähe des Busbahnhofs und einer Maschinenbaufabrik gegeben, schrieb der russische Politiker Wladimir Rogow, Vorsitzender der Bewegung „Wir sind mit Russland zusammen“, am Samstag auf seinem Telegram-Kanal. Ukrainische Medien wiederum berichteten, der Angriff habe einer Militäreinheit und einer Ansammlung von Militärfahrzeugen in der Nähe der Fabrik gegolten. Unabhängig lassen sich die Angaben nicht überprüfen.

In der in dem Krieg ebenfalls von den Russen eroberten Kleinstadt Tokmak im Gebiet Saporischschja ist inzwischen die Zahl der Todesopfer nach einem Angriff am Freitag auf zehn gestiegen. Unter den Trümmern eines Wohnhauses seien zwei weitere Leichen gefunden worden, teilte der von Moskau eingesetzte Statthalter für den besetzten Teil des Gebiets Saporischschja, Jewgeni Balizki, bei Telegram mit.

Selenskyj warnt vor Niederlage

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte angesichts der schwierigen Lage im Osten des Landes vor wenigen Tagen vor einer Niederlage seines Landes im Krieg gegen die russischen Angreifer gewarnt. „Leider verlangsamt sich ein Teil der Unterstützung, und wir müssen alles tun, was wir können, um unsere eigenen Fähigkeiten zu verbessern“, sagte er am Freitag bei einem Treffen lokaler und regionaler Gebietskörperschaften in Tschernowitz in der Westukraine.

Zudem müsse alles getan werden, damit die Aufmerksamkeit der Welt auf die Ukraine gerichtet bleibe. Aktuellstes Problemfeld der Ukraine sei gegenwärtig der Energiesektor, der im Visier ständiger schwerer russischer Angriffe steht und bereits unter großen Ausfällen in der Stromversorgung leidet.

Zwar bemühe sich die Regierung in Kiew um einen weiteren Ausbau der Flugabwehr, doch sollten die einzelnen Gemeinden die Probleme im Auge behalten. „Wir müssen uns auf allen Ebenen auf die nächste Heizperiode vorbereiten – in den Gemeinden, bei den Behörden und in unseren Energieunternehmen“, betonte Selenskyj. Außerdem habe die Rüstungsindustrie weiterhin oberste Priorität. Zudem rechnet Selenskyj nach dem Krieg mit einer Art Marshallplan der USA und der EU für den Wiederaufbau der Ukraine.

Deutschland liefert weiteres Abwehrsystem

Deutschland wird der Ukraine unterdessen ein weiteres Patriot-Luftabwehrsystem liefern. Wie das Bundesverteidigungsministerium am Samstag mitteilte, fiel die Entscheidung dazu „aufgrund der weiteren Zunahme der russischen Luftangriffe“ gegen das Land. Die Einleitung der Übergabe aus Beständen der Bundeswehr erfolge „unverzüglich“. Deutschland hat der Ukraine bisher zwei Patriot-Systeme geliefert.

„Der russische Terror gegen ukrainische Städte und die Infrastruktur des Landes führt zu unermesslichem Leid“, so der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius. „Er gefährdet die Energieversorgung der Menschen und zerstört die für die Einsatzbereitschaft der ukrainischen Streitkräfte wichtigen Industrieanlagen.“ Deutschland gehe deshalb mit der „Unterstützung der Ukraine so weit, wie wir es mit Blick auf unsere eigene Einsatzbereitschaft vertreten können“.

Warten auf Militärhilfe der USA

Die Abgabe eines weiteren Systems sei „durch Rückläufe aus planmäßigen Instandsetzungen möglich“, so das Ministerium. „Alle unsere Bündnisverpflichtungen können mit den Deutschland verfügbaren Systemen erfüllt werden.“ Gleichzeitig würden aber „unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen für eine beschleunigte Wiederbeschaffung und Neubeschaffung eingeleitet“.

Die Ukraine wartet inzwischen auch händeringend auf weitere Militärhilfe der USA, die seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 wichtigster militärischer Unterstützer des Landes waren. Seit Ende vergangenen Jahres blockieren die Republikaner im US-Kongress unter Druck des früheren Präsidenten Donald Trump ein neues Ukraine-Hilfspaket im Umfang von 60 Milliarden US-Dollar (rund 55 Mrd. Euro). Am Freitag sagte Trump, statt direkter Hilfe bevorzuge er Kredite für die Ukraine für deren militärische Verteidigung.