Israelischer Premier Benjamin Netanjahu und sein Kriegskabinett
APA/AFP/Israeli Prime Minister Office
Nach Angriff des Iran

Israel im strategischen Dilemma

Nach dem ersten direkten Angriff des Erzfeindes Iran steht Israel vor einem Dilemma: rasch militärisch zurückschlagen, um so Stärke zu zeigen? Oder die diplomatischen und strategischen Optionen nützen, die Teheran Israel mit seinem Angriff eröffnete? Bisher ist keine Entscheidung gefallen – und diese könnte sich auch verzögern.

Montagnachmittag beriet Israels Kriegskabinett erneut. Offiziell wurde über den Inhalt nichts bekannt. Laut dem israelischen TV-Sender Channel 12 wurden mehrere Optionen besprochen. Einige der Optionen seien von der Art her geringfügiger, andere hingegen intensiver. Israels Ziel sei es, dem Iran zu schaden, aber keinen umfassenden Krieg auszulösen.

Dem „Wall Street Journal“ wiederum sagten namentlich nicht genannte Regierungsvertreter, der Gegenschlag könnte bereits in den nächsten Stunden erfolgen. Der Westen, allen voran die USA, versuchen Israels Regierung derzeit in vielen Telefonaten von einem Gegenschlag abzuhalten. Auch Russland mahnte Israel und den Iran zu Zurückhaltung, um eine Eskalation zu vermeiden. Der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, betonte laut russischen Agenturen, dass Russland dafür sei, „die Meinungsverschiedenheiten ausschließlich mit politischen und diplomatischen Mitteln beizulegen“.

Von verdeckter zu offener Konfrontation

Bereits am Sonntag hatte die Regierung die Armeeführung damit beauftragt, Optionen für einen Gegenschlag auszuarbeiten. Der direkte Angriff des Iran auf Israel – zur Erinnerung: ihm ging die Tötung zweier Brigadegeneräle auf dem Gelände des iranischen Konsulats in Damaskus voran – ist bisher einmalig in der Geschichte der beiden Länder.

Teheran hat damit den seit Jahren indirekt über seine Stellvertreter – vor allem die Terrormilizen der Hisbollah und der Huthis – geführten Krieg zu einer direkten Auseinandersetzung gemacht. Israel griff in der Vergangenheit wiederholt auch Ziele im Iran an, bekannte sich allerdings nie offiziell dazu. Weltweit geht nun die Angst vor einer Eskalation des begrenzten Krieges zu einer offenen regionalen militärischen Konfrontation um.

Abschreckung zentraler Pfeiler

Israels Regierung selbst – seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober innenpolitisch und militärisch ohnehin in einer sehr schwierigen Lage – muss entscheiden, ob es diese offene Konfrontation mit dem Iran riskieren will und kann. Teheran kündigte ja an, auf jeden Gegenangriff gleichwertig oder sogar „größer“ zu reagieren.

Zugleich ist eine resolute Abschreckung seit jeher die Basis der Sicherheitsdoktrin angesichts der vielen Feinde in der Region. Handlungsanleitend wird daher die Einschätzung des Kriegskabinetts sein, ob die Abschreckung durch den iranischen Angriff gelitten hat – oder ob die äußerst erfolgreiche Abwehr des sehr komplex aufgebauten iranischen Angriffs im Gegenteil die Abschreckung gestärkt hat.

Nicht öffentlich diskutiert werden in Israel jedenfalls die Optionen, die das Militär im Fall des Falles überhaupt zur Hand hätte. Mediale Spekulationen gibt es dagegen sehr wohl, sie sind aber alle äußerst unbestimmt – ein klarer Hinweis darauf, dass es bisher tatsächlich keine Entscheidung über das weitere Vorgehen gibt.

Teherans Kalkül als möglicher Bumerang

Der Angriff Teherans kann freilich auch als Selbstbeschädigung der Interessen des iranischen Regimes und als Chance Israels aufgefasst werden. In der öffentlichen Wahrnehmung, insbesondere im Westen, machte der Iran Israel in einer Nacht vom Täter (angesichts der vielen zivilen Opfer und der Hungersnot in Gaza) zum Opfer. Die Forderungen nach einem Stopp von Waffenlieferungen an Israel verstummten umgehend.

Strategischer Traum wurde Wirklichkeit

Vor allem aber gelang es Israel – mit entscheidender Hilfe der USA –, einen alten sicherheitsstrategischen Traum zumindest teilweise in die Realität umzusetzen: ein Bündnis sunnitischer arabischer Staaten mit Israel und den USA gegen den Iran und dessen Verbündete. Dass sich Jordanien, Saudi-Arabien und Bahrain aktiv an der Abwehr des iranischen Angriffs auf Israel beteiligten, ist genau betrachtet ebenso historisch wie Teherans Angriff. Erst recht mitten während des Gaza-Krieges, in dem diese Staaten mit ihrer Solidarität für die Palästinenser gefordert sind.

Innenpolitik als Risikofaktor

Dieses strategische Kapital gleich wieder aufs Spiel zu setzen würde zudem die USA, die deshalb Israel von einem Gegenschlag abhalten wollen, vor den Kopf stoßen. Israels Premier Benjamin Netanjahu, so formulierte es der Militärberichterstatter der Tageszeitung „Haaretz“, Amos Harel, am Montag, sehe die gelungene Abwehr des iranischen Angriffs auch als eine kleine Wiedergutmachung seines Versagens vor und am 7. Oktober.

Ob ihn das veranlassen werde, diesen Erfolg außenpolitisch kühl zu verwerten, wagte Harel nicht einzuschätzen. Netanjahu sei innenpolitisch zu sehr angeschlagen und unter Druck seiner rechtsextremen Koalitionspartner, auf deren Hilfe er angewiesen sei, so Harel im „Haaretz“-Podcast „HaSchavua“.

Die beiden dem Kriegskabinett beigetretenen Oppositionspolitiker Benni Ganz und Gadi Eisenkot – beides Ex-Generäle und Mitte-Politiker – dürften in die andauernden Beratungen all ihr Gewicht einbringen.

Wildner (ORF): Israel berät Reaktion auf Angriff des Iran

Am Montag berät Israels Kriegskabinett erneut über eine mögliche Reaktion auf den iranischen Angriff vom Wochenende.

Eigentlich will niemand Eskalation

Dass es irgendeine Art von militärischer Reaktion geben wird – möglicherweise eine weitere gezielte Tötung –, davon ist letztlich allerdings auszugehen. Sie könnte aber so zeitverzögert erfolgen, dass der Iran hier nicht mehr überzeugend einen direkten Konnex ziehen kann und sich eine Eskalation seinerseits nicht rechtfertigen lässt. Denn weiter gilt: Weder der Iran noch die USA wollen, dass der Konflikt außer Kontrolle gerät.