die israelische Song-Contest-Kandidatin Eden Golan
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Weltbühne

Israel-Eskalation überfordert Song Contest

Es hat sich schon im Vorfeld abgezeichnet, nach dem zweiten Halbfinale am Donnerstag wird es offenkundig: Die Positionierung des Eurovision Song Contest als streng unpolitisches Ereignis wird heuer durch den Gaza-Krieg auf eine harte Probe gestellt. In der TV-Show und hinter den Kulissen ist man bemüht, die Weltpolitik strikt auszublenden – eine Strategie, deren Erfolg sichtbar bröckelt: Rund um den Niederländer Joost Klein scheint der Streit nun weiter zu eskalieren.

Für das TV-Publikum versuchte man, den Konflikt völlig auszublenden. Videos aus der Halle auf Social Media zeichnen ein anderes Bild: Unüberhörbar wurde Sängerin Eden Golan ausgebuht, die vom veranstaltenden Sender SVT übermittelte Tonspur überlagerte die Reaktionen auf „Hurricane“ mit Applaus und Jubel.

Damit setzte sich für Golan fort, was sie seit ihrer Ankunft in Malmö begleitet. Ihr Hotel, das sie fast ausschließlich für die Proben und unter schwerem Polizeischutz verlassen konnte, wird ebenfalls immer wieder von Demonstrantinnen und Demonstranten belagert.

Italienische Televotingergebnisse veröffentlicht

Unmittelbar nach dem Bewerb am Donnerstag machten aber Teilergebnisse des italienischen Televotings die Runde: Demzufolge hätte Israel 39,1 Prozent der Stimmen des TV-Publikums – vor den Niederlanden mit 7,2 Prozent und der Schweiz mit 6,4 Prozent. Die Zahlen wurde am Ende der Show auf dem italienischen Sender RAI in einem Laufband eingeblendet, obwohl Abstimmungsergebnisse in den Semifinal-Shows laut Reglement bis nach dem Finale geheim bleiben müssten.

Wie RAI am Freitag in einer Pressemitteilung betonte, hätte es sich um einen technischen Fehler und zudem nicht um die tatsächlichen Ergebnisse gehandelt. Der Sender habe sich bei der veranstaltenden Europäischen Rundfunkunion (EBU) entschuldigt und zugesagt, für den Rest des Bewerbs alle Regeln des Bewerbs einzuhalten.

Empörung und Spekulationen

Die eingeblendeten Abstimmungsergebnisse machten in den sozialen Netzwerken nichtsdestoweniger wie ein Lauffeuer die Runde – und damit Empörung, krude Spekulationen und Verschwörungserzählungen. Als Folge schoss der israelische Beitrag auch bei den Buchmachern auf Platz zwei – was die Debatte noch einmal anfeuerte, weil viele meinten, Israel habe tatsächlich reale Siegchancen. Im Vorfeld war „Hurricane“ ein gutes Abschneiden in den Top Ten zugetraut worden, aber nicht viel mehr.

Israelischer Performer auf Bühne
AP/Martin Meissner
Eden Golan bei ihrem Auftritt

Die Wettquoten bei den Buchmachern haben sich in den vergangenen Jahren zu einem zentralen Thema beim Song Contest entwickelt, weil sie einerseits tatsächlich die Favoriten fast nie grob falsch einschätzten, andererseits aber auch als eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung auch die Betrachtung und vielleicht auch das Abstimmungsverhalten beeinflussten.

Wettmarkt als Verstärker

Allerdings funktioniert das Wettprinzip wie ein Markt – und auch an den Börsen haben Gerüchte oft große Auswirkungen. Und unterschiedliche Wettanbieter reagieren sofort auf Quotenveränderungen bei der Konkurrenz. Noch dazu sind die Song-Contest-Wetten ein vergleichsweise kleiner Markt, der Kreis jener, die tatsächlich Geld in eine Song-Contest-Wette investieren, sollte einigermaßen beschränkt sein.

Erkennbar ist das auch daran, dass Prognosen für schlechter eingeschätzte Acts praktisch keine Aussagekraft haben. Daraus folgt, dass wohl eine Handvoll getätigter Wetten – oder gar selbstständige Quotenänderung eines einzelnen Buchmachers – enorme Folgen hat. Aus einem Schneeball wird eine – rein virtuelle – Lawine, die allerdings als echte Lawine wahrgenommen wird und damit entsprechenden Einfluss haben könnte.

Völlig unklar ist allerdings, wie groß die Beteiligung am italienischen Televoting war, wie repräsentativ das für andere Länder sein kann – und auch aus welchen Motiven für den israelischen Beitrag angerufen wurde. Denkbar ist durchaus, dass die Sympathien zu einem Teil aus den Protesten und Buhrufen gegen Eden Golan genährt wurden.

Belgische Gewerkschaftsaktion in Liveübertragung

Ein Bruch mit den EBU-Regeln ging auch bei der belgischen Übertragung auf dem flämischen Sender VRT auf Sendung. Vor dem Beitrag Eden Golans wurde die Show für ein Statement der Sendergewerkschaft gegen die Teilnahme Israels und für die Forderung nach einem Waffenstillstand unterbrochen. Der Sender bestätigte, darüber im Vorfeld informiert worden zu sein.

Politische Botschaft als Gratwanderung

Für die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler ist die Situation extrem heikel. Trotz der No-Politics-Regel gehören Statements zu gesellschaftspolitischen Fragen seit Jahren zum Song Contest wie Windmaschinen und Glitzeroutfits – klare Positionen zu LGBTQ- und Frauenrechten sind alles andere als unpolitisch und sind zu einem guten Teil sogar maßgeblich für die Relevanz des Bewerbs in der jüngeren Vergangenheit.

Einfache Friedensbotschaften und selbst Aufrufe zur Toleranz werden nun im Brennglas des Nahost-Konflikts umgehend als Deklaration ausgelegt. Allerdings gehen auch die expliziten Aktionen gegen die israelische Kandidatin weiter.

Niederländer von Probe ausgeschlossen – EBU prüft

Für einen Eklat sorgte offenbar nach dem Halbfinale der niederländische Teilnehmer Klein. Details gibt es noch nicht, doch die EBU bestätigte eine Prüfung der Vorfälle und schloss den Sänger für die Durchlaufprobe Freitagnachmittag aus. Die Pressekonferenz Donnerstagnacht unterbrach Klein mehrfach mit Kommentaren gegen Israel. Bei dem untersuchten Vorfall soll es sich laut schwedischen Medien um eine „Konfrontation“ mit einer TV-Mitarbeiterin handeln. Zudem macht ein Video die Runde, das einen israelischen Journalisten in einem Wortgefecht mit einem niederländischen Delegationsmitglied zeigt. Dieses sei aber nicht Grund der Untersuchung.

Für das Gros der Song-Contest-Fans ist das alles ein dunkler Schatten über dem Bewerb, der für viele alljährlich einen Ausbruch aus dem Alltag und seinen Problemen darstellt.

Vogel-Strauß-Politik

Die EBU müsste vielleicht nachdenken, ob die Strategie des Ignorierens und Wegblendens die richtige ist – oder ob im Rahmen des Bewerbs, der sich immerhin die Völkerverständigung an die Fahnen geheftet hat, nicht eine Form des sinnvollen Diskurses denkbar wäre, der den Schwarz-und-Weiß-Malern den Wind aus den Segeln nimmt.

Die EBU zog sich aber bisher auf dürre Statements zurück, man erklärte etwa auch nicht, dass der seinerzeitige Ausschluss von Russland und Belarus auch eher dem Verhalten der russischen Sender geschuldet waren, die keine öffentlich-rechtliche Linie mehr vertraten, sondern Regimepropaganda brachten. Das ist im Fall Israels anders: Der öffentlich-rechtliche Sender Kan ist der Regierung von Premier Benjamin Netanjahu eher ein Dorn im Auge – und das, obwohl Kan 2017 schon als abgespeckte Version neu gegründet wurde. Der ehemals größere und noch kritischere Sender IBA war zuvor von der damaligen Regierung Netanjahu geschlossen worden.

Große Bühne, große Fragen – keine Lösung

Der Song Contest ist also heuer eine Bühne, auf der sich dieselben Fragen stellen, wie sie sich seit Monaten im öffentlichen Diskurs – und auch in der Weltpolitik – stellen. Kann es eine Kritik an der Politik der israelischen Regierung geben, die nicht ins Antisemitische kippt? Ist Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung möglich, die gleichzeitig auch die mörderische Terrororganisation Hamas verurteilt? Umgekehrt: Kann aus einer israelischen und proisraelischen Position heraus überhaupt differenzierte Kritik angenommen werden, ohne dass dahinter sofort antisemitische Motive wahrgenommen oder vermutet werden?

Selbst bei Kulturveranstaltungen, bei denen viel mehr Platz für Diskurs wie zuletzt die „Rede an Europa“ des Philosophen Omri Boehm im Rahmen der Wiener Festwochen ist, zeigt sich, dass es nur schwer ist, diese Hürden zu überwinden. Wenn wie beim Song Contest gar kein Platz dafür ist, kanalisiert sich die Debatte offenbar in Aktionismus, gegenseitige Anschuldigungen auf Social Media und damit eine Emotionalisierung inklusive Verhärtung der Fronten.