Volksschüler im Klassenzimmer
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Demokratie vs. Hass

Wie Volksschulkinder Politik lernen

Tiere und Pflanzen, Jahreszeiten und Landeshauptstädte: Das sind die klassischen Themen des Sachunterrichts. Dass der Lehrplan auch politische Bildung vorsieht, wird oft nicht berücksichtigt – aus Angst vor brisanten Themen, vor Kritik der Eltern und vor Parteiwerbung. Dabei ginge es darum, dass Kinder lernen, Interessenkonflikte zu erkennen und Dinge abzuwägen – bei Themen, die sie unmittelbar betreffen.

„Dafür sind die Kinder doch viel zu jung“, hört Philipp Mittnik oft von Lehrerinnen und Lehrern. Der Leiter des Zentrums für Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Wien sieht das anders: „Volksschulkinder sind nicht zu jung, um nachdenken zu können.“ Um politische Bildung zu vermitteln, müsse man außerdem weder belastende, schwere Themen in den Unterricht bringen noch erklären, warum man diese oder jene Partei wählt, nimmt Mittnik im Gespräch mit ORF.at Bedenken vieler Lehrender gleich vorweg.

Laut einer Studie, die das Zentrum für Politische Bildung in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut SORA 2014 durchgeführt hat, befürchten 40 Prozent der befragten Volksschullehrerinnen und -lehrer „sehr“ oder „ziemlich“, dass politische Bildung als Parteiwerbung benützt werden könnte, 36 Prozent gaben an, Kritik von Eltern „sehr“ oder „ziemlich“ zu befürchten.

„Nicht nur über den Igel und den Wald sprechen“

In erster Linie geht es in der politischen Bildung allerdings gar nicht so sehr darum, über brisante Themen oder Parteipolitik zu sprechen, stellt Mittnik klar. Denn das Wesen der politischen Bildung sei, Interessenkonflikte zu präsentieren. Und das am besten anhand von Themen, mit denen Kinder etwas anfangen können: Beiträge für Sportvereine etwa, die eine finanzielle Belastung für Familien sind. Oder das Wegschleifen eines Parks, der Kindern in der Nachbarschaft wichtig ist. „Wenn Kinder früh lernen, unterschiedliche Interessen gegenüberzustellen und Dinge abzuwägen, dann können sie das später auch bei sehr viel komplizierteren Themen.“

Empathie zu erzeugen sei das Ziel von politischer Bildung in der Volksschule – „Schülerinnen und Schüler sollen mitfühlend gegenüber Themen agieren“, so der Geschichts- und Politikdidaktiker. Ob man dabei „das Flüchtlingskind hernimmt oder das arme Kind einer alleinerziehenden Mutter aus Wien-Favoriten“, mache keinen Unterschied: „Die haben beide die gleichen Ängste, und ich glaube, dass diese Ängste aufgegriffen werden müssen und dass wir im Sachunterricht nicht nur über den Igel und den Wald sprechen sollten.“

„Enge Bindung“ zum Lehrbuch

Während in Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS) und Neuen Mittelschulen (NMS) politische Bildung als Kombination, meist mit Geschichte, unterrichtet wird, ist sie in der Volksschule Teil des Sachunterrichts. Außerdem ist politische Bildung eines von zehn Unterrichtsprinzipien, die in allen Schulstufen und Schultypen in jedes Unterrichtsfach einfließen sollen.

Dass es politische Bildung nur selten in den Sachunterricht schafft, liegt laut Mittnik auch an der „engen Bindung“ zum Lehrbuch. Denn eigentlich gebe es im Lehrplan viele Anknüpfungspunkte zu Themen wie Demokratie, Gleichbehandlung und Gesprächskultur. „Der Lehrplan ist aber ein ganz schwaches Lenkungsinstrument für Lehrerinnen und Lehrer. Das viel stärkere Lenkungsinstrument sind die Schulbücher, und die geben in diesem Bereich wenig her.“ Beim Thema Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus stehe etwa in einem Schulbuch nur etwas über „die dunkle Zeit“. „Dass es eine Mitverantwortung und eine historische Verantwortung gibt, wird völlig ausgespart.“

Über das Hakenkreuz an der Hausmauer reden

In der Volksschule Stammersdorf in Wien-Floridsdorf gibt es keine Vorbehalte gegenüber politischer Bildung. Die 4a der Schule am nördlichen Stadtrand startet mit dem Thema Gesetze, Regeln, Rechte und Pflichten ins Schuljahr. Zur Einstimmung fragt Lehrerin Karin Hoffinger ihre Klasse, ob es in der Schule Regeln gibt. Sofort schnellen viele Arme in die Höhe: „Andere Kinder nicht verpetzen“, „andere nicht auslachen“, „niemanden beschimpfen“, „nicht mit Sachen herumschmeißen“, „niemanden ausschließen“, „einander helfen“, sind die Antworten der Neun- und Zehnjährigen.

Lernmaterialien für Politische Bildung in der Volksschule
ORF.at/Romana Beer
Impulse für den Unterricht: Die Kinder lesen Sätze zum Thema Regeln und sagen, ob sie zustimmen oder nicht

„Kinder haben ein starkes Gerechtigkeitsgefühl“, sagt Hoffinger gegenüber ORF.at. Ob in der Volksschule politische Bildung unterrichtet wird, ist ihrer Beobachtung nach „sehr stark“ von Eigeninitiative abhängig. Hoffinger sieht es als Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer, im Unterricht auch über Toleranz und Respekt zu sprechen. Ihr ist es wichtig, dass ihre Schülerinnen und Schüler wissen, warum es den Nationalfeiertag gibt. Und „wenn die Kinder ein Hakenkreuz an einer Hausmauer sehen, sollen sie wissen, was es bedeutet“.

Das für den Unterricht vorgesehene Buch verwendet die Lehrerin kaum. Zum Thema Krieg sei darin nur das Bild „Guernica“ von Pablo Picasso abgebildet, der Nationalsozialismus werde nicht einmal gestreift. „Aber die Kinder fragen sehr viel. Und sie erzählen von ihren Urgroßeltern und Großeltern, die sich an den Krieg und die Zeit danach erinnern. Ich sage dann immer, redet mit ihnen darüber. Das sind wichtige Zeugen.“

Themen, die Bauchweh verursachen

Zu Konflikten mit Eltern sei es noch nie gekommen, erzählt Hoffinger. Dennoch würden ihr manche Themen im ersten Moment ein bisschen Bauchweh verursachen. Dass Kinder nicht geschlagen werden dürfen, sei zum Beispiel „ein heikles Thema“: „Manchen Eltern ist es vielleicht nicht zu hundert Prozent recht, wenn die Kinder zu Hause erzählen, dass in der Schule darüber gesprochen wurde.“ Dennoch ist die Volksschullehrerin davon überzeugt, dass über Gewalt gegen Kinder gesprochen werden muss: „Damit die Kinder wissen, dass es Stellen gibt, bei denen sie sich Hilfe holen können. Und damit sie gestärkt werden.“

Lernmaterialien für Politische Bildung in der Volksschule
ORF.at/Romana Beer
Kurze Texte können Ausgangspunkte für Diskussionen sein: Sind strenge Regeln besser oder gar keine?

Dass es die Schule braucht, damit Kinder ihre Rechte kennen, sieht auch Politikdidaktiker Mittnik so. „Und gerade beim Thema Gewalt ist die Stärkung wichtig: zu sagen, eure Eltern dürfen das nicht. Und auch den Hintergrund zu vermitteln, warum man Kinder nicht schlagen darf. Es ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern es macht auch etwas mit Menschen. Es zeigt die Unterwürfigkeit, es zeigt die Nichtgleichberechtigung, was wieder unter demokratiepolitischer Perspektive schädlich ist.“

Kinderrechte seien ein wichtiges Thema in der Volksschule, so Mittnik. „In den Schulbüchern findet man dazu oft den kleinen Samuel aus Burkina Faso, der auf der Kaffeeplantage unter schlechten Bedingungen arbeitet.“ Das sei zwar kein schlechtes Beispiel, „aber wenn man sich den Robert oder den Murat aus Wien-Simmering anschaut, dann ist das viel zielführender“. Auch die Gleichstellung von Frau und Mann müsse man mehr in den Fokus rücken und den Kindern Alternativen zu dem aufzeigen, was sie vielleicht von zu Hause kennen: „Dass es Väter gibt, die zu Hause kochen und die Hausarbeit erledigen. Dass es Mütter gibt, die in technischen Berufen arbeiten.“ Dieses Öffnen der Weltsicht sei „gerade in den Geschlechterfragen“ wichtig.

Chemnitz und der Hass in der Gesellschaft

Die Zustimmung zur Demokratie nahm laut einer Umfrage aus dem Vorjahr in den letzten zehn Jahren leicht ab, während die Zustimmung für autoritäre Regierungsformen leicht anstieg. Das Forum gegen Antisemitismus registrierte 2017 mehr als doppelt so viele antisemitische Vorfälle in Österreich wie noch 2014. Doch Demokratie und aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen sind in der Volksschule nur selten Thema im Klassenzimmer.

Dass Demokratieerziehung bei den Acht- bis Zehnjährigen beginnen muss, davon ist Mittnik überzeugt. Das bedeutet aber nicht, dass Volksschullehrerinnen und -lehrer unbedingt rechtsextreme Ausschreitungen wie etwa in Chemnitz thematisieren müssen. Der Politikdidaktiker schlägt stattdessen vor, im Unterricht über Ausgrenzung zu sprechen: „Dass jeder ganz leicht ausgrenzen kann – dazu bedarf es keiner großen Intelligenz, Mut oder Kraft.“ Und darüber, was Ausgrenzung für die Ausgegrenzten bedeutet. Mit dem Thema Weltwirtschaftsforum fange kein Neunjähriger etwas an, „aber den Hass, der in unserer Gesellschaft wieder so vorherrschend ist, bekommen Kinder mit. Da brauchen wir uns nichts vormachen.“