Frau sitzt vor Fenster
Getty Images/Stephen Lux
Das Corona-Kollektiv

Wenn die Gesellschaft stillsteht

Die rasante Ausbreitung des Coronavirus hat eine Form von gemeinschaftlicher Verunsicherung ausgelöst. Viele stehen jetzt unter besonderem Stress, manche sind mit Existenzängsten konfrontiert, nicht nur gesundheitlichen. Wie also leben mit der Angst – und mit dem Umstand, dass wir uns gerade jetzt mehr auf uns selbst verlassen müssen. Der Internist, Kardiologe und Psychotherapeut Georg Titscher rät im Gespräch mit ORF.at, die Krise gemeinschaftlich zu bewältigen.

Krisen sind Bedrohungen. Aber auch Chancen, bestimmte Mechanismen in sein Leben zu integrieren, damit man von Ängsten und Sorgen nicht erdrückt wird. Dass wir jetzt verunsichert seien, dürften wir bis zu einem gewissen Grad als „natürliche“, aber auch gemeinschaftliche Reaktion erleben. Die Coronavirus-Krise betreffe alle, sagt der auf psychosomatische Krankheitsbilder spezialisierte Arzt und Therapeut Titscher. Er schlägt vor, gerade jetzt mit Achtsamkeit und den richtigen Kontaktmitteln durch die nächsten Wochen zu kommen, wie er im Interview erläutert.

Hilfe bei psychologischem Stress

Während der CoV-Krise leiden besonders Menschen in Psychotherapie unter der Unsicherheit und der Isolation. Viele Therapeuten haben auf Betreuung via Telefon oder Skype umgestellt. Auch die Krankenkasse hat reagiert und zahlt nunmehr auch für Therapien, die am Telefon oder über das Internet erfolgen. Aber auch Menschen ohne psychische Vorerkrankungen sind durch das Alleinsein belastet. Zahlreiche Hotlines bieten dabei ihre Hilfe an.

ORF.at: Wie schlägt sich eine kollektive Verunsicherung bei den Menschen, die zu Hause sitzen, nieder? Und welche Gruppe ist von solchen Verunsicherungen besonders betroffen?

Georg Titscher: 

Es ist eine völlig neue Situation für uns alle, die uns auch alle natürlich verunsichert. Einerseits reagieren wir individuell unterschiedlich mit unseren gewohnten Strategien. In schwierigen Situationen greifen wir ja auf Bewältigungsmechanismen, die sich für uns bewährt haben, zurück. Alles zwischen den Polen Beschwichtigung und Übertreibung der Bedrohung. Andererseits schafft so eine kollektive Ausnahmesituation auch das Gefühl, darin nicht allein zu sein, was die Angst auch mildern kann.

ORF.at.: Warum ist Angst vielleicht gerade jetzt etwas Normales? Und warum nehmen wir uns gerade jetzt anders wahr als in „Normalzeiten“? 

Titscher: 

Die Angst ist jetzt insofern etwas Normales, weil sie uns alle betrifft. Natürlich in unterschiedlicher Qualität und Quantität. Bin ich gesund oder leide ich an schwereren chronischen Krankheiten. Bin ich finanziell abgesichert oder habe ich wirtschaftliche Existenzprobleme. Wie geht es meinen älteren Angehörigen? 
Wir haben jetzt auch mehr Zeit, uns wahrzunehmen, das ist für manche im Alltagstrubel fast verloren gegangen und auch das kann die Verunsicherung steigern.

Georg Titscher im Interview
ORF.at/Thomas Hangweyrer
„Die Angst ist jetzt in gewisser Weise was Normales, weil sie uns alle betrifft“, sagt der Kardiologe und Psychotherapeut Georg Titscher

ORF.at: Unterschiedliche Gruppen reagieren gerade mit unterschiedlichen Stressformen auf diese Herausforderungen. Wie könnte man die klassifizieren?

Titscher: Notfallhelfer sind gewohnt, während ihrer Tätigkeit eigene Ängste und andere schwierige Gefühle zu verdrängen. Das ist notwendig, um zu funktionieren. Notwendig ist es aber auch, Emotionen wie Angst oder Trauer dann besprechen zu können, sie unter Supervision abbauen zu können, um nicht in ein Burn-out zu geraten.

Menschen mit Angsterkrankungen zeigen häufig ein unerwartetes Phänomen. Man könnte ja denken, dass sie derzeit besonders leiden. Das kann auch sein, aber nicht selten reagieren phobische Patienten auf reale individuelle Bedrohungen, z. B. eine schwere bedrohliche Erkrankung oder generelle wie jetzt, rational und vernünftig. Wenn allerdings die Gefährdung ein Thema der phobischen Angst trifft, dann potenziert sich die Angst. Und man sollte sich auch am Ende immer noch seinen Humor erhalten.

ORF.at: Wie kommt man von einer ängstlichen Beobachtung seiner selbst zu einer in der jetzigen Situation handhabbaren positiven Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst?

Titscher: Wichtig ist gerade in der jetzigen Situation, sich mit anderen auszutauschen, was ja heutzutage auch ohne persönlichen Kontakt möglich ist. Wenn Ängste auftreten, darüber sprechen, die eigene Situation mit der von anderen vergleichen, wenn möglich, innerlich einen Schritt zurücktreten und zu relativieren. Wenn nötig, gibt es jetzt auch die Möglichkeit für telefonische psychische Beratung und Psychotherapie. 


Wichtig ist es, Informationen von seriösen Quellen zu beziehen, sich nicht über Soziale Netzwerke zu informieren oder zu googeln, das führt erfahrungsgemäß zu verstärkter Unsicherheit.

Das für die meisten von uns erzwungene Herunterfahren aller Aktivitäten können wir nutzen, um mit uns achtsamer umzugehen, so spüren, was ist wichtig für mein Wohlergehen, zu entschleunigen, sich vielleicht mehr zu bewegen, mehr auf den Körper zu achten, auch was Essen und Trinken betrifft. Die Fastenzeit hat nicht nur religiöse Bedeutung, sondern ist physiologisch am Winterende und Frühlingsbeginn sinnvoll. Es gibt sehr wahrscheinlich einiges, was wir aufgeschoben haben, wofür keine Zeit geblieben ist. Jetzt ist die Zeit dafür, und es kann sehr befriedigend und auch beruhigend sein, solche Dinge zu erledigen.

ORF.at: Wie kann man sich selber beruhigen?

Titscher: Außer dem oben bereits Gesagten, hilft es, den Tag zu strukturieren, Ordnung ins Leben zu bringen, das kann ganz unterschiedliche Bereiche betreffen. 
Entspannungsübungen sind hilfreich, im Internet gibt es viele Möglichkeiten dazu. Vielleicht gelingt es sogar, eine Gewohnheit daraus zu machen, die Übungen über die schwierige Zeit hinaus beizubehalten. Und, das möchte ich abschließend hinzufügen: Man sollte sich gerade jetzt auch seinen Humor weiter erhalten.