Eine Wissenschaftlerin arbeitet im Labor an der Entwicklung eines Impfstoffes
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CoV-Impfstoff

Sicherheit als oberste Priorität

Noch ist in der EU kein Coronavirus-Impfstoff zugelassen worden. Das könnte sich aber – anders als vor Monaten angenommen – schon bald ändern. Grund dafür sind pandemiebedingt beschleunigte Zulassungsverfahren. Bei vielen Menschen sorgt das für Verunsicherung. Dabei haben Sicherheit und genaue Analyse gerade auch im Fall der Pandemie oberste Priorität, sagt der Impfstoffexperte Otfried Kistner gegenüber ORF.at: Die Geschwindigkeit gehe hier nicht zulasten von „Qualität und Daten“.

Sicherheit, Qualität und Wirksamkeit sind auch jene drei Kriterien, die bei der Zulassung eines Impfstoffs in der Europäischen Union erfüllt werden müssen. Und: Nach EU-Arzneimittelgesetzgebung müssen die Vorteile eines Covid-19-Impfstoffs weitaus größer sein als alle Nebenwirkungen oder potenziellen Risiken. Die Beurteilung dessen übernimmt in der EU die Europäische Arzneimittelagentur (EMA).

Nun ist das Prozedere von Impfstoffentwicklung bis zu dessen Zulassung deutlich beschleunigt – was sonst mehrere Jahre dauert, soll im Falle der Pandemie in wenigen Monaten abgeschlossen sein. Auch der sonst übliche Ablauf der Zulassungsverfahren gestaltet sich anders: Üblicherweise werden erst die Impfstoffentwicklung und die klinische Forschung abgeschlossen und erst dann wird ein Zulassungsantrag gestellt, mit dem das behördliche Bewertungsverfahren eingeleitet wird – an dessen Ende idealerweise eine Zulassung steht.

Zentrale der Europäischen Gesundheitsbehörde EMA in Amsterdam
APA/AFP/Koen Van Weel
Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) mit Sitz in Amsterdam fungiert als zentrale Prüfstelle bei Zulassungsverfahren

Anders läuft es nun in der Krise ab: Seit Anfang Oktober bewertet die EMA die ersten Impfstoffkandidaten in einem „Rolling Review“-Verfahren. Im Zuge „rollender Begutachtungen“ (Rolling Reviews) wird mit der Beurteilung des Impfstoffkandidaten bereits begonnen, bevor alle erforderlichen Daten für einen sonst üblichen Zulassungsantrag eingereicht werden.

Berechtigte Bedenken?

Dass der eine oder andere Laie Sicherheitsbedenken äußert, überrascht nicht. Doch sind diese berechtigt? Kistner, der als unabhängiger Experte die Weltgesundheitsorganisation (WHO), aber auch die EU berät, sieht im beschleunigten Zulassungsverfahren sogar einen Vorteil. Die Behörde könne sich auf einzelne Themenpakete konzentrieren und bei Bedarf sofort Rückfragen stellen.

Die „Grundlage allen Fortschreitens“ sei ohnehin, dass die Sicherheit gewährleistet ist, so Kistner zu ORF.at. Im Zuge der klinischen Forschung – die für eine Zulassung entscheidend ist – gibt es mehrere Phasen. Die ersten beiden Phasen dienen der Untersuchung von Sicherheit und Verträglichkeit sowie der Festlegung einer geeigneten Dosis und eines Impfschemas.

Im Zuge der Phase-III-Studien, die für die Zulassung ausschlaggebend sind, werden Wirksamkeit und Verträglichkeit normalerweise an mehreren tausend Menschen getestet. Im Fall von SARS-CoV-2 sogar an Zehntausenden. „Wenn in der Phase I die Sicherheit nicht gegeben ist, dann bekommt man gar kein grünes Licht für die Phase III. Das heißt, es gibt vorher schon einige Stoppsignale“, so der Experte weiter. Abgesehen von der klinischen Forschung werden auch Tierstudien (präklinische Forschung) geprüft – Equipment und Anlagen, die zur Impfstoffherstellung benützt werden, müssen behördlich genehmigt werden.

„Es ist nicht neu für uns“

„Man darf nicht vergessen, es ist ja nicht neu für uns. 2002, 2003 gab es schon einmal ein SARS-Coronavirus. Und damals wurde schon intensiv an Impfstoffen geforscht, nur leider ist die Forschung dann in der Mitte abgebrochen worden, weil während der SARS-Epidemie noch die Vogelgrippe aufgetaucht ist“, sagt Kistner, der damals beim Pharmakonzern Baxter maßgeblich an der Impfstoffentwicklung gegen virale Erreger beteiligt war, hinsichtlich der ungewöhnlich raschen Forschung.

Von der Zeit wisse man einerseits, „wie das Virus aufgebaut ist, wie es immunologisch wirken sollte, welches die Oberflächenstrukturen sind, die man für einen Impfstoff braucht“. Auf diesem Fundament konnten Forscherinnen und Forscher aufbauen. Zudem wurden in den vergangenen Monaten bereits unzählige Menschen mit den diversen Impfstoffkandidaten geimpft – sollten Nebenwirkungen auftreten, dann ist das binnen weniger Tage der Fall – „nach 28 Tagen ist bei den meisten Impfstoffen schon gar nichts mehr nachzuweisen.“

Impfstoffkandidaten bisher gut verträglich

Nach aktuellem Forschungsstand könne man mit „praktischer Wahrscheinlichkeit“ ausschließen, dass es bei den drei aussichtsreichsten Impfstoffkandidaten von Biontech/Pfizer, Moderna sowie AstraZeneca Langzeitrisiken gebe, so der Experte – wenngleich in der Wissenschaft nichts sicher sei. Die Impfstoffkandidaten seien zudem bei allen Personengruppen gut verträglich. Wie bei anderen Impfstoffen ist die Wirkung bei immunsupprimierten Personen allerdings schlechter und muss laufend evaluiert werden. Einzig bei Kindern sei man in puncto Studien zur Verträglichkeit noch nicht so weit: „Kinderstudien werden von Behörden mit noch mehr Argusaugen beobachtet.“

Bei der CoV-Impfstoffentwicklung gibt es im Wesentlichen drei Hauptentwicklungslinien: Lebendimpfstoffe mit Vektorviren, Totimpfstoffe mit Virusproteinen und mRNA-Impfstoffe. Die Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna basieren auf einer Boten-RNA (mRNA), jener von AstraZeneca ist ein Vektorimpfstoff. Er beruht auf einer eher herkömmlichen Herstellungsweise, die Technologie wird auch bereits gegen Ebola eingesetzt.

Bei mRNA-Impfstoffen handelt es sich um eine neue Art von Vakzinen, die auch bereits in der Tumorbehandlung zur Anwendung kommt. Die Boten-RNA in den Vakzinen liefert einen Teil der relevanten Erbinformation des Virus in die menschlichen Zellen. Sie produzieren mit diesen Informationen ein Protein des Erregers, gegen das der Körper dann Abwehrreaktionen entwickelt – „der Körper ist seine eigene Impfstofffabrik“, so Kistner.

Erste Entscheidung Ende Dezember erwartet

Im Fall von Biontech/Pfizer will die EMA bis spätestens 29. Dezember über eine positive oder negative Zulassungsempfehlung entscheiden. Zum Antrag des US-Konzerns Moderna auf Zulassung seines Impfstoffs werde eine Entscheidung bis zum 12. Jänner erwartet. Gibt die EMA einem Impfstoffkandidaten grünes Licht, kann die EU-Kommission die Verwendung der Impfstoffe für alle Mitgliedsländer genehmigen. Es handelt sich hierbei zumeist aber um eine reine Formalie. Das Verfahren könnte nach einer EMA-Empfehlung binnen Tagen abgeschlossen sein.

BNT162b2-Impfstoffe in der Produktion
Reuters/Pfizer
Der Impfstoff von Biontech und Pfizer könnte die erste Zulassung in der EU bekommen

„Nationale Zulassung ist nicht erforderlich“

Eine nationale Zulassung – zusätzlich zu jener durch die EU – ist im Fall der CoV-Impfstoffe nicht mehr erforderlich. Vielmehr sei in Österreich aber „eine behördliche Chargenfreigabe durch ein behördlich ernanntes Arzneimittelkontrolllabor (OMCL – Offical Medicines Control Laboratory der AGES) notwendig“, heißt es seitens des Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) auf ORF.at-Anfrage.

„Die Impfstoffhersteller können selbst entscheiden, bei welchem Arzneimittelkontrolllabor sie für eine Chargenfreigabe einreichen. Jedes Arzneimittelkontrolllabor in der EU bzw. im EWR und in der Schweiz kann, wenn es die gesetzlichen Anforderungen erfüllt, eine Chargenfreigabe für Impfstoffe durchführen. Die Freigabezertifikate müssen dann in der ganzen EU bzw. im ganzen EWR und in der Schweiz anerkannt werden“, heißt es zudem.

Auch nach der Zulassung wird weitergeforscht

Im Falle der bisher gestellten Anträge soll es die Empfehlung einer bedingten Zulassung geben. Eine solche Zulassung soll dringliche medizinische Bedürfnisse befriedigen. Fehlende Daten beispielsweise zur Langzeitwirksamkeit oder zu bestimmten Subgruppen müssen so schnell wie möglich nachgereicht werden. Eine bedingte Zulassung gilt für ein Jahr und kann verlängert werden.

Auf die Zulassung von Impfstoffen folgt zudem die letzte Phase der klinischen Forschung, also Phase-IV-Studien zur Langzeitwirkung. Dadurch sollen einerseits potenziell auftretende extrem seltene Nebenwirkungen erkannt werden können, aber es soll auch festgestellt werden, wie häufig nachgeimpft werden muss, um den Schutz durch die Impfung erhalten zu können.

Akzeptanz als große Herausforderung

„Letztlich steht und fällt alles mit der Akzeptanz“, so der Experte im ORF.at-Gespräch. Laut Umfragen von Mitte November würden sich zwischen 46 Prozent (Gallup-Umfrage) und 54 Prozent (Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung, GfK) der österreichischen Gesamtbevölkerung impfen lassen – eine Impfpflicht soll es hierzulande jedenfalls nicht geben.

Herdenimmunität könne aber erst bei einer Durchimpfungsrate von 60 bis 70 Prozent erreicht werden, auch nach Ansicht der Expertenschaft der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Angesichts der zu geringen Akzeptanz in der Bevölkerung mache es für Kistner daher aktuell Sinn, zuerst Risikogruppen zu impfen – wie es auch die Regierung vorsieht. „Persönlich sage ich immer, ich würde mich lieber gestern als heute impfen lassen“, so Kistner zudem. Das Wichtigste in der Impfdebatte? „Aufklärungsarbeit. Zuhören, reden, zuhören, reden, zuhören, reden.“