Untersuchung von CoV-Mutation im Labor
Reuters/Ritzau Scanpix/Henning Bagger
Lockerung

Große Sorge wegen Virusmutationen

Trotz hoher Infektionszahlen wagt Österreich ab Montag eine Lockerung des Lockdowns. Erwartet wird eine erneute Zunahme der Fälle – wie rasch, hängt stark von der Verbreitung der CoV-Mutationen im Land ab. Die erstmals in Großbritannien nachgewiesene Variante B.1.1.7 dürfte in vielen Regionen auf dem Vormarsch sein. Sorge bereitet die in Tirol aufgetretene Mutation B.1.351. Fachleute plädieren für harte Maßnahmen, um sie einzudämmen.

Als Österreich am 6. Dezember vom harten in den weichen Lockdown wechselte, habe sich das Wachstum um zehn Prozent erhöht, sagte der Komplexitätsforscher Peter Klimek vom Complexity Science Hub (CSH), der „Presse“. Auf die jetzige Situation umgelegt, bedeutet das laut Klimek, dass der R-Wert von aktuell 0,95 auf über eins steigt. Das hieße, eine Person steckt durchschnittlich mindestens eine weitere an.

Nicht in dieser Rechnung enthalten sind die neuen Virusvarianten. Die erstmals im Süden Englands detektierte Variante B.1.1.7 ist um 20 bis 40 Prozent ansteckender als der in Österreich grassierende Virus-„Wildtyp“. „Wenn die britische Variante durchschlägt – was noch für Februar zu erwarten ist – und diese Variante eine Verdoppelungszeit von zirka einer Woche hat, dann wären wir binnen einer Woche von einer Inzidenz von 100 auf 200 und so weiter“, so Klimek.

„Fleckenhafte“ Datenlage

Bisher erhobene Daten zeigen, das sich B.1.1.7 in Österreich zum dominierenden Virustyp entwickelt. Was die regionale Verteilung betrifft, zeigt sich laut dem Genetiker Andreas Bergthaler ein noch sehr ungenaues Bild. Die Datenlage sei aktuell leider „fleckenhaft“, sagte der Wissenschaftler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gegenüber der APA.

Bisherige Daten zeigen laut Bergthaler jedenfalls ein „Ost-West-Gefälle“ und starke regionale Unterschiede. Für Wien wisse man zumindest von einer Stichprobe, die einen Anteil von rund 15 Prozent unter einer Gruppe an positiv Getesteten aufwies. Ebenso bekannt ist der 17-Prozent-Anteil in einer Abwasserprobe im Jänner. Im Burgenland hat sich der B.1.1.7-Anteil unter den identifizierten SARS-CoV-2-Viren in den ersten vier Kalenderwochen laut kontinuierlichen Analysen der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) von 1,7 auf 37 Prozent erhöht.

Der markanteste Wert in Niederösterreich ist jener aus einer Kläranlagenprobe aus Bad Vöslau mit 71 Prozent unter den dort gefundenen SARS-CoV-2-Viren. Mittwochabend gab das Land bekannt, dass die Zahl der Fälle in ganz Niederösterreich sprunghaft ansteigt – mehr dazu in noe.ORF.at.

In der Steiermark gibt es Bergthaler zufolge Hinweise auf einen Verbreitungsanteil von B.1.1.7 von rund einem Viertel – mehr dazu in science.ORF.at. Auch in Salzburg scheint B.1.1.7 zumindest regional schon stark verbreitet; in Proben aus der Kläranlage Salzach-Pongau konnte die Variante am 18. Dezember noch nicht nachgewiesen werden – zum Jahreswechsel betrug ihr Anteil bereits 54 Prozent.

Lockdown weniger effektiv gegen B.1.1.7

Auf die absoluten Infektionszahlen in Österreich hat B.1.1.7 noch keinen Einfluss. „Im Moment sieht man nur eine Verdrängung bei gleichbleibenden Infektionszahlen“, sagte die Virologin Judith Aberle von der MedUni Wien gegenüber ORF.at. In Ländern, in denen die Virusaktivität generell gestiegen sei, hätten auch die B.1.1.7-Fälle stark zugenommen. „Man muss verhindern, dass es dazu kommt“, so Aberle. „Dass die britische Variante die bisherigen Varianten in Österreich verdrängt, ist ein Hinweis, dass der Lockdown zwar funktioniert, aber nicht so effektiv gegen B.1.1.7 gewirkt hat.“

Die „britische Variante“ weist alleine acht Mutationen im Spike-Protein auf, mit der das Virus an der menschlichen Zelle andockt. Dadurch kann sich der Erreger besser an Rezeptoren binden. Wissenschaftlich diskutiert wird, ob Personen, die mit B.1.1.7 infiziert sind, eine höhere Viruslast in sich tragen. Der Nachweis dafür habe bisher noch nicht erbracht werden können, so Aberle.

Illustration des CoV-Spike-Proteins
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Das Spike-Protein der CoV-Variante B.1.1.7 (roter Teil) – die Mutationen erleichtern es dem Erreger, sich an Rezeptoren zu binden

In diesem Zusammenhang wurde eine interessante Beobachtung bei Abwasseruntersuchungen in Österreich gemacht. Während die Kurven der 7-Tage-Inzidenz und der Virenlast im Abwasser bis Dezember parallel verliefen, koppelten sich die beiden Kurven danach mehr und mehr ab, berichtete der „Standard“. Die Inzidenzkurve sei gesunken, die Virenwerte im Abwasser seien hoch geblieben.

„Bisher gibt es nur eine Arbeitshypothese, die noch in keiner Weise belegt ist“, sagte Norbert Kreuzinger von der TU Wien der Zeitung. „Es ist aber auffällig, dass das Phänomen mit dem Auftauchen der B.1.1.7-Mutation zusammenfällt. Wenn Personen, die mit dieser Variante infiziert sind, auch mehr Viren ausscheiden, könnte das ein erklärender Hinweis sein.“

B.1.351-Hotspot in Tirol

In den Stichproben aus den beiden westlichsten Bundesländern spielt B.1.1.7 bisher nur eine untergeordnete Rolle. Sorgen bereitet Fachleuten allerdings das gehäufte Auftreten der erstmals in Südafrika entdeckten Variante B.1.351. In einer Stichprobe von fast 500 positiv getesteten Personen ergab sich zuletzt ein B.1.1.7-Anteil von um die fünf Prozent, von B.1.351 waren es 15 Prozent. Das seien aber regionale Schlaglichter und sicher nicht auf jedes Eck in Tirol umlegbar. Dass die südafrikanische Variante dort stärker angekommen ist, würden aber auch weitere, aktuelle Proben zeigen, sagte Bergthaler.

Im Vergleich zur „britischen“ Variante verfügt die in Südafrika aufgetretene über andere Mutationen im Spike-Protein. „Das führt dazu, dass sie schlechter durch Antikörper neutralisiert werden kann“, sagte Aberle. Vor allem Personen mit niedrigem Antikörperspiegel könnten weniger gut geschützt sein. In Bezug auf die bisher verfügbaren Impfstoffe zeigte sich in Studien, dass Antikörper B.1.351 zwar neutralisieren, die Wirkung aber stark vermindert ist. „Die Antikörperspiegel nach der Impfung sind im oberen Drittel derer, die man nach natürlich durchgestandener Infektion hat“ so Aberle.

Virologin: Lockdown in Tirol verlängern

Fachleute stufen die Situation in Tirol als ernst ein. Die Virologin Dorothee von Laer von der Medi-Uni Innsbruck plädierte dafür, den Lockdown im Bundesland zu verlängern. Ein paar Tage könne man die Situation noch beobachten, aber dann würde sie im Falle einer mangelnden Eindämmung vorschlagen, die geplante erste Öffnung zu verschieben, sagte von Laer der APA. Zudem riet sie in diesem Falle zu einer „Einschränkung der Reisetätigkeit“ von und in das Bundesland sowie zu zwei „Massentestungen“.

Virologe Krammer zu CoV-Varianten und Seren

Impfstoffforscher Florian Krammer (Mount Sinai Hospital, New York City) erklärt, wie gefährlich Coronavirus-Varianten sind, wie man sie bekämpfen kann und wie wirksam welche Impfungen sind.

Im „Standard“ war auch von einem „Tiroler Subtyp“ von B.1.351 die Rede. Diese Variante habe zusätzlich „mindestens zwei fixe Mutationen – also quasi eine Weiterentwicklung der südafrikanischen Variante“, so von Laer: „Es ist offenbar ein Virustyp innerhalb der südafrikanischen Variante eingeschleppt worden – mit zusätzlichen Mutationen. Das kann reiner Zufall sein, dass dieses Virus diese Mutationen hat, aber es kann auch sein, dass das eine biologische Bedeutung hat. Aber das muss es nicht.“ Weitere Untersuchungen laufen – mehr dazu in tirol.ORF.at.

„Es gibt einen starken Anstieg. Aber das Land Tirol mauert und verschleiert wieder“, wird von Laer im „Kurier“ zitiert. Sie habe bereits vor einer Woche angeboten, Sequenzierungen durchzuführen. „Stattdessen werden die Proben weiter an die AGES geschickt, von wo sie dann nach ein bis zwei Wochen wiederkommen. Wir sequenzieren hier in zwei bis drei Tagen“, sagte die Virologin.