Trafikantin blickt aus ihrem Zeitungskiosk
ORF.at/Christian Öser
Deutschland-Wahl

Der Osten trotzt den Klischees

Fast 31 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands sind Unterschiede zwischen Ost und West weiterhin spürbar. ORF.at hat Menschen im Osten und Paare, die aus beiden Landesteilen kommen, gefragt, warum. 40 Jahre unterschiedliche Geschichte lassen sich nicht so einfach wegwischen, so der Tenor. Großer Druck, wenig Hilfe und fehlendes Feingefühl nach der Wende halfen da nicht. Die junge Generation sieht das schon anders – mit möglichen spannenden Folgen für die Bundestagswahl.

„Früher“, sagt Bärbel Rosenberg, „da wurde dir alles gesagt. Da war viel Härte, aber man hat sich auch um dich gekümmert.“ Rosenberg betreibt einen Kiosk inmitten von Plattenbauten in Hoyerswerda, im Osten Deutschlands. Früher war sie Maschinistin im nahe gelegenen Braunkohlekraftwerk. Nach der Wende warf sie den Job hin, machte sich selbstständig, der Kiosk war damals eine Goldgrube. Mittlerweile hat sie nur noch am Vormittag geöffnet, damit sie rauskommt, wie sie verschmitzt sagt.

„Heute“, erzählt sie weiter, „musst du deine eigenen Entscheidungen treffen. Das überfordert viele.“ Nicht wenige würden daran scheitern, sagt sie, die im Viertel, in dem sie selber wohnt, viele gehen und auch wiederkommen gesehen hat – darunter ihren Sohn, der zum Arbeiten nach Österreich ging und erst seit Kurzem wieder Arbeit hier hat.

Trafikantin blickt aus ihrem Zeitungskiosk
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Rosenberg hat in ihrem Kiosk viele Menschen und Schicksale gesehen

„Ich hätte nie erwartet, dass es auch bei alltäglichen Geschichten solche Unterschiede gibt zwischen dem Osten und Westen“, erzählt Christian Schwamberger, geboren und aufgewachsen im Westen. Er sei „blauäugig“ nach der Wende in den Osten gegangen zum Studieren und habe geglaubt, es sei alles wie immer. „Das war definitiv nicht so“, viele über 30 hätten schwer zu kämpfen gehabt. „Wir hätten uns an der einen oder anderen Stelle auch besser benehmen und zurücknehmen können.“

„Brutaler Preis“

„Für mich war die Wiedervereinigung ein Erfolg, zu einem brutalen Preis“, erzählt Jana Kunath-Busse, neben ihrem Mann Volker Busse und dem befreundeten Ehepaar Christian und Dirk Schwamberger am Tisch im Haus der Busse in Mecklenburg-Vorpommern. Jana Kunath-Busse wurde wie Dirk Schwamberger im Osten geboren, Christian Schwamberger und Volker Busse im Westen. Privat, sagen alle lächelnd, war die Wende ohnedies ein Erfolg, gesellschaftlich sei das Urteil differenziert.

Sie sei als Studentin in der DDR weinend vor Glück vor dem Fernseher gesessen, als die Mauer fiel – ihre Eltern hätten sich beim nächsten Besuch hingegen entsetzt gezeigt. „Für sie war es eine große Kränkung. Man geht da ja nicht in ein fremdes Land, man wandert nicht aus und man versucht ja nicht, sich an Dinge anzupassen, an die Gesellschaft – sondern es ist das eigene Land.“ Sie beschreibe den Zustand immer wie „ausgewandert, geflohen im Reservat“.

Viele Menschen, darunter ihre Eltern, hätten Karrieren und Jobs verloren, erzählt Jana Kunath-Busse, die aus einer, wie sie selbst sagt, „sehr, sehr kommunistischen Familie“ stammt – ihr Urgroßvater war Gründungsmitglied des Spartakusbundes, einer Gruppe revolutionärer und stark im Marxismus verankerter Sozialisten, die später in der Kommunistischen Partei aufgingen. Ihre Familie war bis hin zu ihren Eltern in sehr hohen bis sehr guten Positionen in der DDR, sie selbst sei „das schwarze Schaf“ gewesen, mit Kontakt zu Künstlern.

„Wahnsinnige Anpassungsleistung“

Für Dirk Schwamberger kam die Wende in der DDR „gerade zum richtigen Zeitpunkt“, mitten im Teenageralter. Seine Eltern hätten mit dem neuen System aber sehr zu kämpfen gehabt, erzählt er, teilweise hätten sie mehrere Schichten gearbeitet, um ihre Arbeit zu behalten. Es müsse eine „wahnsinnige Anpassungsleistung“ gewesen sein, sich da in ein völlig neues System zu fügen, „war ja nix wie gewohnt“.

DDR versprach Arbeit für alle

Nicht jeder Arbeitsplatz in der DDR war immer sinnvoll, erzählt Fleischermeister Frank Sinapius.

Es habe in der DDR auch Arbeitsplätze gegeben, die es vielleicht nicht unbedingt gebraucht hätte, erzählt Fleischermeister Frank Sinapius, ebenfalls aus Hoyerswerda. Die DDR habe schließlich Vollbeschäftigung versprochen – und habe dann auf den Westen gezeigt, dass der so viele Arbeitslose habe. Aber genau das habe auch dazu geführt, dass die DDR insolvent wurde.

Ihr Großvater habe nach der Wende immer Angst gehabt, erzählt Jana Kunath-Busse schließlich weiter, dass man ihn aus dem Haus zerrt und er in ein Lager kommt oder erschossen wird. Dass es nicht so kam, habe er lange nicht verstanden. Ihre Großmutter habe von der Wende von einem Umsturz gesprochen. Dirk Schwambergers Großeltern hingegen kannten das westliche System noch von vor der Wende – und sie hätten sich sehr gefreut, während seine Eltern im „Alltag steckten“. In seiner Familie habe er einen großen Bruch zwischen den Generationen gespürt.

Als der Westen den Osten „überrannte“

Nach der Wende kamen viele Menschen aus dem Westen in die ehemalige DDR, um dort das Gesellschaftssystem des Westens zu verankern und aufzubauen, egal ob in Infrastrukturbetrieben wie der Bahn, in der Justiz und Verwaltung oder auch in Produktionsbetrieben – sofern diese nicht überhaupt geschlossen oder aufgekauft wurden. Damals habe es den Spruch gegeben „Wer im Westen nix wird, den versuche man im Osten unterzubringen“, erzählt Dirk Schwamberger.

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Mehrere große Wohnbauten in Leipzig
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Der Osten Deutschlands ist geprägt von vielen unterschiedlichen Baustilen
Mehrere große Wohnbauten in Leipzig
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In den Innenstädten Ostdeutschlands stehen oftmals niedrige Häuser aus der Zeit vor dem Mauerbau
Mehrere große Wohnbauten in Leipzig
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An allen Ecken kann man Baustellen sehen, wie hier in Berlin
Mehrere große Wohnbauten in Leipzig
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Neuere Wohnbauten fügen sich meist harmonischer ins allgemeine Stadtbild ein als jene aus früheren Tagen
Mehrere große Wohnbauten in Leipzig
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Wo aktuell Wohnraum gebraucht wird wie in der wachsenden Großstadt Leipzig, werden bestehende Bauten nach und nach saniert
Mehrere große Wohnbauten in Leipzig
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Eigenheime gibt es natürlich in allen Teilen des Landes – der Erhaltungsgrad ist aber sehr unterschiedlich

Sie habe das auch im universitären Bereich so erlebt, meint Jana Kunath-Busse. Es sei mitunter ein wenig wie der Pool für die zweite Liga aus dem Westen gewesen, meint auch ihr Mann. Vieles hätte man bei der Umstellung etwa der Unis freundlicher gestalten könnten, sagt Volker Busse, und zusammen eine Lösung suchen können. „Das war schon ein gewisses Überrennen.“ Bis heute, belegen offizielle Zahlen, sind in hohen Positionen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft viel mehr Westdeutsche als Ostdeutsche zu finden.

Hilfe bei ganz grundlegenden Dingen

Hilfe beim Umstieg in das neue System gab es von offizieller Seite oder auch den Unternehmen wenig bis gar nicht, gerade Unternehmen hätten stark Druck gemacht, erzählen die vier – einzig in den Medien hätten Sendungen und Magazine wichtige Dinge erklärt, wie man etwa einen Antrag stellt oder den Stromvertrag wechselt.

„Es gab dabei aber kein Miteinander“, erzählt Christian Schwamberger, sondern der Westen habe dem Osten erklärt, wie der Westen funktioniert. Es sei auch nicht die Frage gewesen, ob man vom alten System was mitnehmen könnte, sondern die neuen Strukturen seien einfach übergestülpt worden, sagt sein Mann. Ein Gemeinsamkeitsgefühl zu entwickeln war da schwer.

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Ein buntes Mural auf einer Gebäudefassade in Leipzig
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Halle an der Saale beherbergt gemeinsam mit der Nachbarstadt Leipzig eine Million Menschen und gilt als wichtige Kulturstadt
Ein buntes Mural auf einer Gebäudefassade in Leipzig
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An vielen Orten wie hier in Eisenhüttenstadt sieht man Reminiszenzen an die DDR, etwa alte Kinderspielgeräte
Ein buntes Mural auf einer Gebäudefassade in Leipzig
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Leipzig war bereits vor der Wende als Messestandpunkt ein wenig bunter und stärker durchmischt als andere DDR-Städte
Ein buntes Mural auf einer Gebäudefassade in Leipzig
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In Berlin, hier am Cottbusser Tor, sind kaum noch Unterschiede zwischen Ost und West zu sehen
Ein buntes Mural auf einer Gebäudefassade in Leipzig
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Leipzig gilt als Zentrum der Kreativszene im Osten Deutschlands
Ein buntes Mural auf einer Gebäudefassade in Leipzig
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Sinnbild Osten: Zwischen Neubau, Revitalisierung und Abriss

Dabei ging es um sehr grundlegende Dinge, so Jana Kunath-Busse, wie Kredite: „Es gab ja kein Kreditwesen in der DDR und kaum Kredite, das heißt, man musste Menschen erklären, wie geht das mit Geld, wie geht das mit Krediten“, oder auch mit Versicherungsverträgen. Viele Leute habe auch schockiert, dass etwa nach dem Einbau einer Badewanne diese nun dem Vermieter gehörte, „das war existenziell“.

„Viel Porzellan zerschlagen“

Es seien wohl gerade in den ersten Jahren nach der Wende viele Fehler und entsprechend Kränkungen passiert, meint Peter Bartha, der mit seiner Frau, einer Ärztin, wie auch das Ehepaar Schwamberger, in Dresden wohnt. Kurz nach der Wende seien viele Glücksritter gekommen, „da ist viel Porzellan zerschlagen worden“. Man habe das im Osten nicht so gekannt, „dass da Menschen versuchen einem die Unterhose zu klauen“, so Bartha, der mit seiner Frau vor rund 15 Jahren von Wien nach Dresden gezogen ist. Viele Menschen hätten mit dubiosen Projekten, gerade im Immobilienbereich, viel Geld verloren.

Durchschnittlich verfügbares Jahreseinkommen nach Landkreis pro Einwohnerin bzw. Einwohner

Er persönlich finde die Mentalitätsunterschiede nicht so dramatisch, er sehe auch kein Gefälle mehr, auch wenn das – offenbar gerade im Osten – wenige hören wollten. Dass es allerdings über 30 Jahre nach der Wende durchaus noch ein deutliches Lohngefälle gebe zwischen Osten und Westen, das helfe einem Gemeinschaftsgefühl nicht gerade. Viele Ostdeutsche seien auch nicht freiwillig zum Arbeiten in den Westen gegangen, sondern weil es im Osten nichts gab – das ändere sich nun, immer mehr kämen wieder zurück.

„Was wäre die Alternative gewesen?“

Der größte Unterschied, sagt auch Bartha, sei, dass die Menschen sich nach der Wende selbst um Dinge kümmern mussten, die früher für sie erledigt wurden. „Damals hieß es, verhalte dich konform und alles ist in Ordnung.“ Wenn man sich dann von einem Tag auf den anderen selber um Dinge kümmern muss, könne einen das schon überfordern. Auch er habe schließlich mit dem westdeutschen System zu kämpfen gehabt, gibt er zu.

„Es war nicht alles schlecht“

Viele Menschen mussten nach der Wende zum Arbeiten von zu Hause weggehen, erzählt Fleischermeister Frank Sinapius, der auch meint, dass in keinem System alles gut oder alles schlecht sei.

Als Unternehmensberater habe er eine Reihe Menschen aus dem Osten getroffen, die gestandene Unternehmer waren, aber nach der Wende hätten oft das Kapital, die passenden Qualifikationen und die Verbindungen gefehlt. Die ehemals ostdeutschen Unternehmen seien dann alle vom Westen gekauft worden. „Die Frage ist: Was wäre die Alternative zur Wiedervereinigung gewesen? Hätte man noch warten sollen?“ Im Nachhinein sei es immer einfach, etwas besser zu wissen.

Junge Menschen sehen weniger Unterschiede

Die junge Generation in Deutschland sieht ebenfalls deutlich weniger Unterschiede zwischen den Landesteilen und den Menschen aus Ost und West (Besser-„Wessis“ und Jammer-„Ossis“, wie es früher oft hieß), zeigen Gespräche von ORF.at in Dresden, Berlin und Halle. Sie wünsche sich, dass ihre Generation mehr wahrgenommen werde, sagt eine 19-jährige Studentin vor einem Einkaufszentrum im Stadtteil Gorbitz, wo zu DDR-Zeiten Plattenbauten mit Wohnungen für fast 40.000 Menschen aufgezogen wurden. Gorbitz gilt mittlerweile als sozialer Brennpunkt.

Klimaschutz vs. Arbeitsplätze

Ihm persönlich sei der Klimaschutz sehr wichtig, er verstehe aber sehr, dass Menschen in Regionen, die von der Braunkohle abhängig sind, mit dem Thema sehr zu kämpfen haben, sagt Lukas, gebürtig in Cottbus.

Im ehemaligen Ostberliner Stadtteil Friedrichshain, mittlerweile Szenebezirk, herrschte überhaupt der Tenor unter den Befragten, dass man in Berlin nur noch wenige Unterschiede merke – gerade einmal an den Verkehrsmitteln, wo etwa die Straßenbahn fahre und wo die U-Bahn. Die Anliegen waren in der Großstadt Berlin naturgemäß anders – wie der Wunsch nach mehr Fahrradwegen und weniger Autos oder billigeren Wohnungen – als etwa in Halle bei Leipzig, wo in vielen Gesprächen Ausländer bzw. Ausländerfeindlichkeit Thema war.

Der Frust im Osten ist noch da

Viele der von ORF.at Befragten wünschen sich einen Wechsel – „was anderes“, „was Neues“, einen Umsturz, ohne dabei ins Detail zu gehen, viele wollen sich auch nicht mit Bild und Ton aufnehmen lassen. Immer wieder geäußerte Themen sind weiters Klimaschutz und Verkehr, vor allem bei den Jungen, die sich oft in Richtung Linke und Grüne deklarieren. Das Thema Bildung wird ebenfalls häufig genannt, im Osten auch die Ungleichbehandlung bei der Bezahlung.

Stimmen zur Wahl in Deutschland

Klima, Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Verkehr sind die wichtigsten Themen bei einer Passantenbefragung in Berlin und Halle.

Ein Pensionist auf einer stark motorisierten Vespa im Stadtteil Gorbitz in Dresden beschwert sich über die Ausländerpolitik und wünscht sich eine Koalition von CDU und FDP, „auf keinen Fall Grün!“, die seien zwar fürs Klima nicht schlecht, aber deren „Flausen“ merke er jetzt schon am Spritpreis. Er werde nun in die Innenstadt ziehen, sagt er, er könne mit den Menschen im Viertel nicht mehr.

Zwei Ehepaare in Dresden erklären, sich jemanden wie Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) in Deutschland zu wünschen, dieser sei „jung und dynamisch“. In Deutschland sei „zu viel Farbe im Spiel“, man habe Angst vor zu vielen Ausländern, zu viele Kulturen, das sei nicht gut. Da sei die Politik in Österreich anders. Allerdings gibt eine der Frauen zu, dass der Ausländeranteil im Osten eh gering sei, „das muss man ja nun mal ehrlicherweise sagen, und wir sind es nicht gewöhnt“.

Zweitstimmenmehrheiten nach Wahlkreisen: Die Zweitstimme entscheidet über die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag, denn mit der Zweitstimme entscheiden sich die Wählerinnen und Wähler nicht für eine Person, sondern für die Landesliste einer Partei. In den Hochrechnungen und Umfragen geht es daher meistens um die wichtigeren Zweistimmenergebnisse. Mit der Erststimme wird hingegen direkt eine Kandidatin oder ein Kandidat aus dem jeweiligen Wahlkreis gewählt. Dabei kann die Erststimme an eine Person gehen, die nicht für jene Partei antritt, die mit der Zweitstimme gewählt wird („Stimmensplitting“).

Einiger Frust ist in diesem Gespräch vor allem bei den Männern spürbar, wegen der unterschiedlichen Lohnniveaus, einer „Vereinnahmung“ des Ostens durch den Westen, dass der Westen die Konkurrenz im Osten „plattgemacht“ habe. Was in 30 Jahren nicht zusammengewachsen sei, das werde sich auch in Zukunft nicht ändern, so die Runde, die sich auch über die Jugend beschwerte, die „mit Bier und Handy in der Hand“ sonst nichts tun wolle. Im Osten Deutschlands ist die rechtspopulistische AfD in vielen Gebieten stark bis stärkste Kraft.

Gemeinschaftsgefühl durch Mangel

Ein Gemeinschaftsgefühl habe es in dem als solidarischer Staat deklarierten Ostdeutschland wohl gegeben, sagt Dirk Schwamberger – vieles sei aber eher aus dem alltäglichen Mangel und Zwängen entstanden. „Wenn du im Supermarkt nichts kaufen kannst, musst du dich gut stellen, damit du was tauschen kannst.“ Das sei auch durchaus künstlich gewesen, selbst wenn das ältere Generationen nicht so benennen würden.

die Ehepaare Kunath-Busse und Schwamberger
Christian Schwamberger
Die Ehepaare Kunath-Busse und Schwamberger kennen als Ost-West-Paare beide Seiten der Geschichte

Nach der Wende sei die Gesellschaft stark auseinandergegangen, so Dirk Schwamberger, die Jungen seien weggegangen zum Arbeiten oder für die Ausbildung, viele Firmen hätten geschlossen, Kontakte hätten sich zerstreut, die Menschen hätten auch nicht unbedingt über ihre jeweilige Situation gesprochen. Auch sei die Durchmischung höher gewesen, im Plattenbau habe der Direktor neben dem Arbeiter gewohnt. Wer nach der Wende Geld oder Arbeit hatte, ging aber bald weg und zog in bessere Wohngegenden. Wer es nicht geschafft hat, blieb in den unsanierten Plattenbauten.

Viele soziale Strukturen der DDR seien nicht ersetzt worden, meint Jana Kunath-Busse, und nicht aufgefangen worden, wie durch die Kirche. „Ochsengrillen oder Weihnachtsfeiern, das gibt es nicht mehr, das ist vorbei.“ Auch sie sieht ein Auseinanderdriften, weil die einen tollen Job bekamen, andere hingegen arbeitslos wurden, oder auch herauskam, wer „Bonze“ war und wer vielleicht bei der Staatssicherheit. Zur Zeit der Wende habe sie alles superspannend gefunden, sie sei selbst wie eine Turbokapitalistin gewesen, mittlerweile sei sie traurig, weil Dinge auch anders hätten ablaufen können, etwa mit Sonderwirtschaftszonen.

Historisches Haus in Halle
ORF.at/Christian Öser
Einige Städte, hier Halle, erinnern in Teilen an Herrschaftsvierteln im Westen

„Es war ein Experiment“

Persönlich habe er nicht gedacht, dass es auf einen Vollbeitritt hinausläuft, erzählt Volker Busse, das „Wir prägen einem anderen Staat komplett unser System auf“, das später stattfand, habe er auch nicht erwartet. Es sei schon eine schwere Zeit gewesen, als den Ersten dämmerte, dass es mit ihren Karrieren nun vorbei war. Die Wende sei für die kommenden Generationen ein Erfolg, man müsse aber sehen und respektieren, dass es für viele Menschen einen richtigen Lebensbruch gab.

„Gesellschaftlich wird noch länger nachwirken, was verloren gegangen ist. Was nicht bedeutet, dass man die Zukunft nicht positiv gestalten kann“, sagt schließlich Dirk Schwamberger. „Es war ein Experiment, wir waren das erste Land, wo das durchgeführt wurde, und dafür ist es ganz glimpflich gegangen. Es war zu der damaligen Zeit vielleicht das Beste, was möglich war.“