Lesegarten beim Bachmannpreis
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Bachmannpreis, Tag 3

Abwedeln, Weltende, Bobohölle

Leona Stahlmann, Clemens Bruno Gatzmaga, Juan S. Guse und Elias Hirschl haben das Programm des letzten Lesetags beim Bachmannpreis gebildet, bevor am Sonntag die Gewinner live verkündet werden. Blickt man auf die emotionalen Jurydebatten des Vortages, so zeigte die Jury am Samstag: Sie war schnell aufgewärmt und erhitzte sich gern, als der erste Text schon das Ende der Welt in den Blick nahm und im zweiten gepflegt „abgeschüttelt“ wurde. Für das Publikum vor Ort war Elias Hirschl der Liebling des Tages.

Eine Reihe von Mitfavoriten um die Preise bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2022 hat der letzte Tag bisher in jedem Fall gebracht. Kollektive Verunsicherung und Mikrobeobachtungen im Persönlichen markierten die Spannweite der Beiträge.

„Die Welt ist so voll von Reihenfolgen, dass die, die überbleiben, sich auf Buchstaben setzen und zu Wörtern werden.“ Damit begann am Samstag mit dem Text „Diese ganz vermeidbaren Wunder“ von Leona Stahlmann (auf Einladung von Michael Wiederstein) der letzte Lesetag. „Die meisten Reihenfolgen auf dieser Welt ergeben keinen Sinn“, hält Stahlmanns Text weiter fest. Abdrücke des Lebens zwischen Mutter und Kind werden auf dem Weg in ein fremdes Land gesucht.

Wer sitzt in der Jury?

Übersicht über die Mitglieder der Jury beim Bachmannpreis.

Das Kind bleibt in den Jahren danach „rückstandslos“ an den Fersen der Mutter. Doch es gibt in diesem Text auch ein „Danach“ – und das „Danach“ hat auch viel mit dem Älterwerden zu tun. „Da musst du durch, ein paar Jahre ohne Windeln, das heißt erwachsen sein“, so der Text. Die Mutter hat ein Nest gebaut aus Teer, doch „es ist ein gutes Nest“, das für „ein paar Jahre reichen würde“. Die Mutter heißt Leda, das Kind, es könnte, so legt es der Text nahe, auch ein Vogel sein. Zwischen Mythos und konkreter Gegenwartsbeziehung oszilliert dieser Text: „Im Nebel blieb der Fluss ungenau und ließ sich auf nichts festlegen.“

Lesetag beim Bachmannpreis
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Leona Stahlmann führt zu Beginn in ein Zwischenreich zwischen Tiere, Menschen und Mythos

„Es ist die Zukunft unserer Kinder, die wir da fressen“, fasst der Text die Mühen des konkreten Elternseins und den allgemeinen Verbrauch des Planeten zusammen: „Darf man eigentlich eine kleinliche Zicke sein, wenn die Welt untergeht? Lies mir die Leviten, wenn du die Fettaugen meiner Suppe zählst, mein Kind!“ Die fünf kleinen Minuten unter der Dusche gegen das Große der Welt, dieses Gegensatzpaar wirkt so trivial wie groß und hier souverän verdichtet.

Leona Stahlmann: Porträt, Lesung und Diskussion

„Zu viel Pose im Text?“

Mara Delius lobte die Souveränität des Textes, der mit den Szenarien am Ende des Anthropozäns spiele. Er gehöre typisch in das Genre der „Climate Fiction“. Dennoch habe sie auch Probleme mit dem Zusammenhang des Textes und mit der literarischen Vermenschlichung der Natur, wie sie hier ausgeführt würden. Philipp Tingler sah den Text nur auf gefragte „Konfektionsreize“ ausgerichtet: „Man erkennt fehlende Souveränität immer am Moment des Auftretens des Kitsches; das sei auch ein sehr zeitgenössisches Phänomen.“ Das Verbalisieren von Körperlichkeit komme letztlich auch ins Fahrwasser des Kitsches: „Der Text erschöpft sich in Posen der Rebellion. Und Schreiben ist nun einfach keine Form der Körperfunktion. Und auch die vollgeschissenen Windeln dieses Texts sind alles andere als neu.“

Auch Insa Wilke kritisierte die ungenaue Stilistik des Textes – weder die Autorin noch Leserinnen und Leser kämen an diesen Text heran. „Der Text ist auf die Begriffe der Klimakrise zugerichtet“, kommentierte Klaus Kastberger, der auch die Meinung teilt, dass dem Text nur teilweise Lösungen gelängen: „Alle Katholen sind immer schon auf das Ende der Welt gerichtet.“ Immerhin sei der Text eine Suche und stelle diese Suche aus. Die Motive der Mutterschaft würden von der Kritik in den Reaktionen nicht gewürdigt, kritisierte Brigitte Schwens-Harrant ihre Kolleginnen und Kollegen: „Dieser Text passiert aus der Position des Aufstandes. Man müsse auch die eingesetzten mythologischen Motive in ihrer Geballtheit würdigen.“

Clemens Bruno Gatzmaga
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Letzte Regieanweisungen an Clemens Bruno Gatzmaga und dann wird literarisch mal ordentlich „abgewedelt“ – das Gegenteil von Zeman, auch in der Bewertung in den sozialen Netzwerken

Gatzmaga: „Als hätte er nie abgeschüttelt“

„Als hätte er nicht abgeschüttelt, dabei schüttelte er doch immer ab. Das dritte Schütteln dient nur der Sicherheit.“ Das unwillkürliche Urinieren von Herrn Schulze führt in den Text von Clemens Bruno Gatzmaga (auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant). Elke, der Freundin, fällt auf, wenn Urin in der Unterhose ist. Doch so kann es nicht gewesen sein, so war es nicht. Während er schlief, muss ihm etwas entwischt sein. Vom Traumgefühl zum Bauchgefühl, das behagt Schulze überhaupt nicht.

Clemens Bruno Gatzmaga: Porträt, Lesung und Diskussion

Gefühle werden verdrängt, weil es doch in der Gesellschaft immer darum gehe, ins Tun zu kommen. Schulze wird „geführt von Elke, (…) was wäre er ohne sie?“ Vor dem Angesicht Elkes kann auch „nie ein Tropfen in der Unterhose dagesessen sein“, schließt Schulze zu seinem Bauchgefühl. Gehorcht er dem Wasser oder gehorcht das Wasser ihm, fragt sich Schulze und meint, mit Elke im Nacken, das Leben steuern zu können: „Alles wird gut, wie Elke immer sagt. Erzwingen kann man nichts.“ Ohrfeigengesicht hatte man zu Schulze gesagt – „das ist doch nicht seine Schuld, dass er ein Ohrfeigengesicht hat, hatte die Schmidt-Rimbach gesagt.“ Doch Schulze bleibt selbstständig. Mit Elke. Und Schmidt-Rimbach im entfernteren Nacken, heißt es in diesem Text aus der Genazino-Schule: „Führen und Folgen, hat Elke immer gesagt.“

„Nach der Mutterverherrlichung kommt das Mutterproblem“, kommentierte Insa Wilke die Lesereihenfolge diese „Erzählung der Unfreiheit“. „Wo sehen Sie eine Mutter?“, fragte Vea Kaiser darauf. Sie ortet eine völlige Schwäche der Männerdarstellung: „Nach den vielschichtigen Körperflüssigkeiten vorher ist es nur noch furchtbar geworden.“ Kontrollverlust sieht Michael Wiederstein in diesem Text am Beispiel von drei Tropfen in der Unterhose verwirklicht: „Auf den ersten Blick sieht der Text simpel aus, der aber die Konventionen von Sprachfloskeln in die Figuren gleiten lässt. Deshalb will er auch in seiner Unterhose aufklären.“

Bemerkenswert fand Kastberger die „Klitzekleinheit“, an denen so viel hänge: „An drei Tröpfchen hängt eine ganze Weltordnung und das Schicksal dieser Person.“ Gut komponiert, aber nicht originell fand Tingler den Text, „aber Originalität ist kein Kriterium für einen Text – diesen Text hätte man aber hier auch vor 30 Jahren vortragen können“. Ihn interessiere aber die aufgehobene Trennung von Öffentlichem und Privatem in diesem Text. Allerdings wäre noch die Figur in ihrem Dilemma noch vielschichtiger dargestellt worden.

Juan S. Guse und die verschwundenen Menschen

Bei einem Teller Ravioli in einem Basislager trifft Ines den Dramatiker Wolfram Lotz im Text „Im Fall des Druckabfalls“ im Text des Autors Juan S. Guse (eingeladen von Mara Delius). Das Basislager liegt im Taunus, wo eine internationale Suchaktion gestartet wurde. Was gesucht wird, ist schwer zu erahnen, aber man ist hier in einer Dystopie, die auch in einer Zeit nach einer Pandemie liegen könnte. Strom, Archiv und auch ein Schuhgeschäft gibt es hier, wo man auf „unbekannte Gruppen mitten in Europa“ stoße.

 Juan S. Guse
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Juan S. Guse und die Suche nach der Vollständigkeit der Menschheit

„Es herrscht hier eine ähnliche Stimmung wie beim Grubenunglück von San Jose.“ Dass man nie gesehene Menschen unweit von Frankfurt am Main entdeckt, wird zum ungeheuerlichen Ereignis. Kinder waren verschwunden, neue, unbekannte Menschen aufgetaucht. Alle sind ermüdet in diesem Text, der ebenso zwischen globaler Katastrophe und privater Erschöpfung oszilliert.

Juan S. Guse: Porträt, Lesung und Diskussion

Der abgeriegelte Taunus, er könnte ein Reservat werden. Und auch das Literaturhaus Frankfurt hatte sich am Rand dieses Gebiets des Ungeheuerlichen angesiedelt, um all das, was sich hier abspielt, festzuhalten. Die Vehemenz der Suche nach den Unbekannten wird begründet mit der Absicht, die „Vollständigkeit des Menschen“ wieder herzustellen. Der Text endet in einem Duty-free-Shop und mit dem Satz: „Noch nie hatte sie eine solche Angst vor einer Stange Toblerone.“

Großes Wohlwollen bei der Jury

„Den grandiosesten letzten Satz des Bachmannwettbewerbs“, lobte Vea Kaiser in Reaktion auf diesen Text. Er kenne nicht alle letzten Sätze beim Bachmannwettbewerb, kommentierte Klaus Kastberger, lobte aber den Suspenscharakter des Textes zu den letzten Dingen. Hier würde nicht billig moralisiert. Insa Wilke würdigte das konsequente Zu-Ende-Denken des Textes und aller Bilder, die er entwerfe. Die Gegenwart schimmere hier durch alle Thematiken durch: „Dieser Text erzählt von uns und geht auch alle Traditionen durch.“ Der Text wirke sehr schlicht, ziehe aber alle an den neuralgischen Punkten in die Tiefe, so Mara Delius. Alle plotrelevanten Ereignisse würden hier geschickt ausgelassen, was eine Stärke des Textes sei.

Der Text lese sich auch wie eine Parabel auf den Bachmannpreis, so Wiederstein: „Ich glaube, Herr Guse macht sich hier einen großen Spaß aus uns, und ich mag das.“ Blinde Landschaften zu finden in einer Welt, die total vermessen ist, diesen Aspekt lobte Brigitte Schwens-Harrant, fand aber, dass der Text nicht in jedem Moment grandios stilistisch gestaltet sei. „Das Dressing war gut abgeschmeckt und das Hühnchen kross“, das ist ein bisschen wenig, so Schwens-Harrant. „Aber das ist doch grandios“, hielt Delius dem Dressingsatz entgegen.

Elias Hirschel und der Bobo-Neoliberalismus

Das Leben einer Textarbeiterin, die die Unfälle der Welt in seiner Atemlosigkeit mitbekommt, skizziert den Anfang von Elias Hirschls „Staublunge“ (vorgeschlagen von Klaus Kastberger). „Ich hab hey geschrieben. Er hat hey geschrieben.“ Man könnte in einem Bilderbuch-Song sein bei Hirschl, wo man in die Welt der „Same Day Crew“ entführt wird. Dort ist Jonas der Chef: „Seine Ausbildung war die Schule des Lebens.“

Elias Hirschl: Porträt, Lesung und Diskussion

Lifestyle-Neoliberalismus ist die Grundierung dieser Welt, in der sich die Erfolgreichen die Unangenehmen vom Leib halten und ein „Pale-Ale“ trinken. Gärende Bierflaschen platzen, das benutzte Kondom nach dem Sex verschwindet diskret in der Start-up-Welt, in der der Nescafe auf dem Campingkocher gemacht wird. „Wir können im Leben lernen oder gewinnen“, erklärt Jonas beim Frühstück am Tag danach.

Oft ist der Boden voll mit Kondomen und Bierdosen in diesem Text. Eine solide Welt gibt es hier nicht mehr in einem Text, der ebenso rudimentär voranschreitet. Eine Staublunge, das ist eine Geisterstadt, „ein ausgelaugter Fahrradkurier, das sind tausend kulinarische Gerüche, aber kein offenes Restaurant“. In der Bruchstückhaftigkeit der Ich-Perspektive ist Hirschls Text formal die vielleicht radikalste Antwort auf die Befindlichkeiten der Zeit bei diesem Wettbewerb. Allerdings stellt der Text seine Absicht überdeutlich aus.

Elias Hirschel
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Elias Hirschel wurde beim Bachmannpreis von vielen Fans erwartet

„Fand ihn so mittel“

„Ich finde den Text so mittel“, sagte Philipp Tingler und fügte hinzu: „Immer wenn Herr Kastberger einen Text gebracht hat, den ich so mittel fand, gewinnt der den Bachmannpreis.“ Der Text habe so eine eindeutige Botschaftsabsicht, dass es irgendwann ermüdend und redundant werde. Wie etwas gegenwärtig in einen Text gebracht werde, sei ein wesentliches Kriterium für einen Text der Gegenwart, befand Delius, die den Text sehr lakonisch fand. Auch ihr war der Text zum postkapitalistischen Prekariat zu lang. Zwischen Zombieapokalypse und Ruhrpotttristesse spielt sich der Text für Wiederstein ab. Eigentlich unterläuft der Text die Gig-Economy. Die Erzählung hat für Wiederstein auch viel zu viele Tonschwankungen.

Bachmannpreis mit großer Textbreite

In Sachen Breite hatte der Bachmannpreis heuer einiges zu bieten. Und er stellt auch die Jury vor die Herausforderung, wie sie mit dem Mehr an eingereichten Erzählarten und Darbietungsformen von Texten umgehen muss. Viele der Autorinnen und Autoren beim Bachmannpreis haben Deutsch nicht als Erstsprache, stammen teils aus anderen Erzähltraditionen und machen genau diese Erfahrung zum Gegenstand ihrer Texte, bzw. kommen mit ihren Erzählarten auch aus anderen Traditionen.

Zugleich, das merkt man, konkurriert Literatur dieser Tage mit anderen Erzählgenres, von Netflix-Plattformen bis zur ewigen Selbstthematisierung sozialer Plattformen. Die Jury hat teilweise noch ästhetisch hohe Erwartungen bzw. versucht, das zu verteidigen, wofür man sie einlädt: für die Beurteilung der Qualität von Texten. „Das“, so der umtriebige Juror Kastberger, „ist am Ende immer auch eine Geschmacksfrage, so sehr wir unterschiedliche objektive Kriterien in der Betrachtung heranziehen.“

Am Tag zwei wurde trefflich über den mit Querverweisen überladenen Text einer Barbara Zeman gestritten. Und auch im Finale über den Auftritt der Autorin Mara Genschel, die einen Text wie ein Fundstück und Rollenspiel präsentierte. „Beurteilen wir die Performance oder den Text oder beides?“, lautete die Frage in der Jury. Und vom Podium kam erstmals die Replik von Autorinnenseite: „Dass das eine Performance sei, sagen die ganze Zeit nur Sie, ich habe das nie behauptet.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Temperatur im Fernsehgarten schon so aufgeheizt, dass die Gefechte der Jury aus dem Studio nicht Kühlung, sondern Erregung bis zu einem gewissen Erschöpfungspunkt brachten.

Publikum kann abstimmen

Ab Samstag um 15.00 Uhr kann das Publikum aus allen Beiträgen einen Publikumssieger wählen. Am Sonntag wird die Preisvergabe live übertragen und auch in ORF.at live berichtet. Und eine politische Debatte zog die Eröffnungsrede von Anna Baar („Die Wahrheit ist eine Zumutung“) auch nach sich – mehr dazu in Es wurde heiß am Tag zwei.

Das Programm

Am Donnerstag lasen

  • Hannes Stein
  • Eva Sichelschmidt
  • Leon Engler
  • Alexandru Bulucz
  • Andreas Moster

Am Freitag lasen

  • Ana Marwan
  • Behzad Karim Khani
  • Usama Al Shahmani
  • Barbara Zeman
  • Mara Genschel

Am Samstag lasen

  • Leona Stahlmann
  • Clemens Bruno Gatzmaga
  • Juan S. Guse
  • Elias Hirschl