EU-Flaggen vor dem Hauptquartier der europäischen Kommission
Reuters/Yves Herman
Energie, Schulden, Korruption

Von der Leyen will EU reformieren

Ob Energiemarkt, Schuldenabbau oder Korruptionsbekämpfung – EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat im Zuge ihrer Grundsatzrede im EU-Parlament am Mittwoch weitreichende Reformen angekündigt und die Einberufung eines neuen europäischen Konvents vorgeschlagen. Vor allem der Ukraine-Krieg und die Coronavirus-Pandemie machten die Notwendigkeit neuer Regeln zuletzt deutlich.

„Das ist die Zeit für uns, Entschlossenheit zu demonstrieren und nicht Beschwichtigung“, sagte von der Leyen angesichts der Folgen des Krieges in der Ukraine. Noch am Mittwoch wird sie nach Kiew reisen, um mit Präsident Wolodymyr Selenskyj über eine Annäherung der Ukraine an den EU-Binnenmarkt zu beraten. Es war ihre dritte Rede dieser Art, seit sie den Posten an der Spitze der Brüsseler Behörde im Dezember 2019 übernommen hat. Noch nie seitdem waren die Aussichten so düster.

Der Ukraine stellte sie ebenso wie den Staaten des westlichen Balkan, Moldawien und Georgien eine EU-Mitgliedschaft in Aussicht. Eine Erweiterung der EU bedinge aber auch eine Reform des Staatenbundes, betonte von der Leyen. Bei einem Konvent sollte nach ihren Worten deshalb eine EU-Reform ausgearbeitet werden. „Lang lebe Europa!“, rief sie.

Geänderte Regeln für Energiemarkt

Gekleidet in den Farben der Ukraine – blaues Oberteil, gelber Blazer – bereitete von der Leyen die Bürgerinnen und Bürger zugleich eindringlich auf harte Zeiten vor. „Die bevorstehenden Monate werden nicht leicht“, sagte sie, „weder für Familien, die nur schwer über die Runden kommen, noch für Unternehmen, die schwierige Zukunftsentscheidungen treffen müssen.“

Diese Aussichten sind die Ursache für geplante weitreichende Reformen der EU – vor allem in puncto Energiemarkt. Die Kommissionspräsidentin kündigte einen Gesetzesvorschlag gegen die hohen Energiepreise an, der sowohl Produzenten von erneuerbarem Strom als auch Gas- und Ölkonzerne dazu verpflichten würde, eine Abgabe für das Gemeinwohl zur leisten. „Unser Vorschlag wird mehr als 140 Milliarden Euro für die Mitgliedsstaaten bringen, um die Not unmittelbar abzufedern.“ Außerdem sollen die Mitgliedsstaaten zu Spitzenzeiten ihren Stromverbrauch senken.

Von der Leyens Rede zur Lage der EU

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat in ihrer Rede zur Lage der Union die Solidarität der EU mit der Ukraine und die Bedeutung der gegen Russland verhängten Sanktionen hervorgehoben. Sie präsentierte auch Details zum EU-Notfallplan in Bezug auf die Energiekrise. Bekannt war, dass sie eine Abgabe von Gas- und Ölfirmen sowie Ökostromerzeugern verlangen will. Diese soll 140 Milliarden Euro für die Mitgliedsstaaten bringen. „In diesen Zeiten müssen die Gewinne geteilt werden und denjenigen zugutekommen, die sie am meisten brauchen“, betonte sie.

Langfristige Reform vorgesehen

Die Kommissionspräsidentin bekräftigte, dass ihre Behörde neben diesen kurzfristigen Maßnahmen „eine tiefgreifende und umfassende Reform des Strommarktes“ plane. „Das derzeitige Strommarktdesign, das auf dem Merit-Order-Prinzip beruht, ist nicht mehr zweckmäßig“, sagte sie. „Wir müssen den dominierenden Einfluss von Gas auf den Strompreis entkoppeln.“

Die Mehrheit der Fraktionsvorsitzenden im Parlament begrüßte die Vorschläge in ihren Reaktionen auf von der Leyens Rede. Als Nächstes beraten nun die EU-Staaten über den Gesetzesvorschlag – das nächste Krisentreffen der EU-Energieministerinnen und -minister ist am 30. September.

Raffaela Schaidreiter (ORF) über die EU-Rede

ORF-Korrespondentin Raffaela Schaidreiter fasst die Rede zur Lage der Union der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusammen.

Warnung vor neuen Abhängigkeiten

Mahnende Worte hatte die Kommissionspräsidentin hinsichtlich des Risikos neuer Abhängigkeiten parat: Seltene Erden und Lithium würden künftig wichtiger sein als Öl und Gas, sagte sie mit Blick auf die Energiewende. Das Problem sei, dass diese Märkte von China beherrscht würden mit einem Anteil von 90 Prozent bei Seltenen Erden und 60 Prozent bei Lithium.

Erforderlich sei, dass die EU ihre Partnerschaften mit demokratischen Staaten ausbaue, um ihre Werte und Interessen zu stärken. Die EU-Kommission werde sich daher dafür einsetzen, die Handelsabkommen mit Chile, Mexiko und Neuseeland zu ratifizieren und mit Australien und Indien entsprechende Verhandlungen voranzutreiben.

„Neue Realität mit höheren Schulden“

Änderungen soll es jedenfalls beim Schuldenabbau geben. Für Oktober kündigte von der Leyen Vorschläge der EU-Kommission zur Reform der geltenden Euro-Stabilitätskriterien an. „Wir müssen die neue Realität mit höheren Schulden anerkennen.“ Strategische Investitionen müssten auch in Zukunft möglich sein. Gleichzeitig müssten die Schulden aber tragfähig sein.

„Mitgliedsstaaten sollten mehr Flexibilität bei ihren Schuldenabbauplänen bekommen, sie sollten aber bei der Umsetzung mehr in die Pflicht genommen werden“, sagte sie. Außerdem sollten die Regeln einfacher werden. Diesbezüglich liegt ein Vorschlag einiger Mitgliedsstaaten vor, die Verteidigungsausgaben mit Blick auf eine Bedrohung durch Russland von den Stabilitätskriterien ausnehmen möchten.

Brüssel will Kampf gegen Korruption stärken

Mehr Strenge will Brüssel hingegen bei der Korruptionsbekämpfung zeigen: Von der Leyen betonte unter Applaus, dass die EU-Kommission im kommenden Jahr Vorschläge für einen stärkeren Kampf gegen die Korruption machen wolle. Besonders Ungarn ist deshalb im Visier Brüssels. Die EU-Kommission hat Verfahren gegen Budapest eingeleitet und hält millionenschwere Hilfen aus dem CoV-Wiederaufbaufonds zurück. Das EU-Parlament und einige Mitgliedsstaaten kritisieren das Vorgehen aber als zu zögerlich.

Durchwachsene Reaktionen

Die Reaktion auf von der Leyens Grunsatzrede fielen durchwachsen aus. Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) begrüßte die angekündigten Pläne: „Für die Probleme am europäischen Markt braucht es europäische und gemeinsame Lösungen“, sagte sie in einer Aussendung. Gewessler zeigt sich daher froh, dass nun konkrete Vorschläge auf dem Tisch liegen, die sie auch mitbeschließen wolle.

Der Erste Vizepräsident des EU-Parlaments (EP), Othmar Karas (ÖVP), und EP-Vizepräsidentin Evelyn Regner (SPÖ) vermissten hingegen Antworten auf die soziale Frage. Als ein „Totalversagen auf allen Ebenen“ kommentierte der freiheitliche Delegationsleiter im Europäischen Parlament Harald Vilimsky die Rede. Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) wiederum betonte, dass von der Leyen „zu Recht auf die Bedeutung der europäischen Solidarität für die Ukraine, die auch das europäische Lebensmodell verteidigt, verwiesen“ habe. NEOS-Europaabgeordnete Claudia Gamon begrüßte das Maßnahmenpaket, zeigte sich aber vom Fehlen eines Preisdeckels auf russisches Gas enttäuscht.

„Die Liberalisierung des Strommarktes war ein schwerer Fehler“, sagte SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner indes. Die Arbeiterkammer (AK) befindet die Pläne für „kaum wirksam“. „Es gibt keinen Eingriff auf der Strombörse, eine Entkopplung des Strompreises vom Gaspreis erfolgt nicht“, hieß es. Greenpeace sieht den Entwurf für eine Solidaritätsabgabe als einen „ersten Schritt“, drängt aber auf eine höhere Besteuerung.