Zerstörte Häuser in Jandaris
Reuters/Mahmoud Hassano
Syrien

Warnung vor Rückkehr in zerstörte Häuser

Eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben ist die Lage in den betroffenen Gebieten Syriens katastrophal. Dringend benötigte internationale Hilfe wird durch den Konflikt zwischen Regierung und Rebellen sowie diplomatische Querelen behindert. UNO-Angaben zufolge stimmt Machthaber Baschar al-Assad nun der Öffnung von zwei weiteren Grenzübergängen zu.

Nach wie vor harren Hunderttausende bei Minusgraden Tag und Nacht im Freien aus, abgeschnitten von jeglicher Versorgung. Eine an Ort und Stelle tätige Hilfs-NGO warnt nun vor der Rückkehr in zerstörte Häuser. Weil es eklatant an Notunterkünften für die nach UNO-Schätzungen bis zu 5,3 Millionen obdachlos gewordenen Menschen fehle, warnte die in den Rebellengebieten tätige Syrian American Medical Society (SAMS) die Menschen vor möglicherweise tödlichen Konsequenzen im Falle des Betretens der fragilen Ruinen.

Das Beispiel einer Familie aus der von den Beben schwer getroffenen Kleinstadt Dschindiris, die laut SAMS zwei Mal gerettet werden musste, zeige die Gefahr. Eine schwangere Frau sei zunächst wenige Stunden nach den Erdstößen unter ihrem halb eingestürzten Haus mit leichten Verletzungen herausgezogen worden, so die NGO. Nach der Geburt ihres Kindes seien sie und ihr Mann zurück in das halb zerstörte Haus gezogen. Während eines Nachbebens stürzte das Zuhause der Familie den Angaben nach schließlich vollständig ein.

Zerstörte Häuser in Aleppo
Reuters/Firas Makdesi
Ein Mann vor zerstörten Häusern in der von der Regierung kontrollierten Stadt Aleppo

Die Frau sei schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht worden. Auch das Baby befinde sich in einem kritischen Zustand. Ob auch der Mann verletzt wurde, blieb unklar. Generell haben die vom Erdbeben heimgesuchten Gegenden in Syrien bisher nur wenig Hilfe erhalten, da die Fronten zu den regimekontrollierten Gebieten abgeriegelt sind und bisher nur ein einziger Grenzübergang (Bab al-Hawa) die Region mit der Türkei im Norden verbindet.

Konvois bereit – können aber nicht in Gang kommen

Zwar hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Konvois mit Hilfslieferungen für die betroffenen Gebiete in Nordwestsyrien bereit, sie wartet aber noch auf die Ausliefergenehmigung. Die Regierung habe in Damaskus eine umfassende Genehmigung erteilt, Konvois aus Gebieten unter Regierungskontrolle in Rebellengebiete zu bringen, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus zuletzt in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Bis zuletzt wollte die Regierung des syrischen Machthabers Baschar al-Assad die Hilfe nur durch von ihr kontrollierte Gebiete fließen lassen.

Ein UNO-Sprecher sprach zuletzt von „Genehmigungsproblemen“ mit der islamistischen Gruppe Hayat Tahrir al-Scham (HTS), die den Großteil des Gebiets kontrolliert. UNO und USA stufen die HTS als terroristische Organisation ein.

Rebellenführer ruft zu Hilfe auf

Der Rebellenführer der HTS, auf den die US-Regierung ein Kopfgeld von zehn Millionen US-Dollar ausgesetzt hat, rief zu dringender internationaler Hilfe für die nordwestliche Provinz Idlib auf. „Die Vereinten Nationen müssen verstehen, dass sie in einer Krise helfen müssen“, sagte Ahmed Hussein al-Schara, besser bekannt unter dem Decknamen Abu Mohammad al-Dscholani, dem britischen „Guardian“.

Dscholani wurde 2013 von den USA offiziell als Terrorist eingestuft, weil er früher die al-Nusra-Front, eine Splittergruppe von al-Kaida, geleitet hatte. „Von der ersten Stunde des Erdbebens an haben wir Nachrichten an die Vereinten Nationen geschickt und um Hilfe gebeten“, sagte al-Schara dem „Guardian“ in Idlib. „Leider kam keine Unterstützung für unsere Such- und Rettungsteams und auch keine spezifische Hilfe zur Bekämpfung dieser Krise.“

Erdbebenkatastrophe: Immer noch Rettungen

Nach der Erbebenkatastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet sind nach offiziellen Angaben aktuell bereits 35.000 Tote zu beklagen. Die UNO schätzt, dass die Zahl der Todesopfer auf über 50.000 ansteigen dürfte. Dennoch gibt es auch nach einer Woche noch Lichtblicke, denn jeden Tag werden noch Überlebende unter den Trümmern gefunden.

Die in Nordwestsyrien tätige humanitäre Hilfsorganisation Weißhelme hatte sich am Freitag darüber beschwert, dass bis dahin praktisch keine UNO-Erdbebenhilfe in der Region angekommen sei. Auch aus Spitälern waren zuletzt Hilfeschreie an die internationale Gemeinschaft abgesetzt worden – angesichts der völlig ungenügenden Versorgungslage.

Rebellen verhandeln

Doch auch innerhalb des Landes stocken die Hilfslieferungen. 52 Lastwagen mit Hilfsgütern aus kurdisch kontrollierten Gebieten für Regionen im Westen Syriens seien von türkeinahen Rebellen gestoppt worden, teilte am Montag die in Großbritannien ansässige Aktivistengruppe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit. Beide Seiten stünden derzeit in Verhandlungen.

Die Güter kommen den Angaben nach aus dem Nordosten des Landes und sollen nach Wunsch der Kurden nach Idlib und Afrin gefahren werden, die unter Kontrolle anderer Milizen stehen. Die Lastwagen transportieren etwa Zelte, Lebensmittel, Medikamente und warme Kleidung.

UNO-Nothilfekoordinator Griffiths traf in Aleppo ein

Unterdessen kam UNO-Nothilfekoordinator Martin Griffiths nach seiner Reise in das türkisch-syrische Erdbebengebiet am Montag in der syrischen Stadt Aleppo an. Die Rettungsphase, bei der Überlebende oder Tote aus den Trümmern gezogen werden, neige sich dem Ende zu, sagte Griffiths. Jetzt beginne die humanitäre Phase, um Betroffene mit Unterkünften, psychosozial und mit Lebensmitteln, Schulunterricht und einem „Sinn für die Zukunft“ zu versorgen.

Griffiths hatte zuvor bereits Versäumnisse der Vereinten Nationen bei der Hilfe für die syrischen Erdbebenopfer eingeräumt. „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen“, twitterte er.

Einsatz der Weißen Helme in syrischer Stadt Jandaris
Reuters/Khalil Ashawi
In Syrien geht die Hilfe nach wie vor nur sehr schleppend voran

Assad willigte in Öffnung von zwei Grenzübergängen ein

Assad bat nach einem Treffen mit Griffiths die UNO um Hilfe beim Wiederaufbau. Assads Regierung kontrolliert mit Verbündeten etwa zwei Drittel des Bürgerkriegslandes. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur SANA betonte Assad nun, dass Hilfsgüter alle Teile Syriens erreichen müssten.

Zudem habe Syriens Machthaber zugestimmt, dass die UNO drei Monate lang über zwei weitere Grenzübergänge in der Türkei Hilfsgüter nach Syrien liefern dürfe. Das teilte Griffiths nach Angaben von Diplomaten Montagabend in einer geschlossenen Sitzung des Sicherheitsrates mit. UNO-Generalsekretär Antonio Guterres begrüßte die Ankündigung Assads. Die Öffnung werde erlauben, dass mehr Hilfe hineinkomme und zwar „schneller“. Auch der Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, sieht darin eine „gute Sache für das syrische Volk“, sollte es Assad „ernst“ meinen.

Zahl der Toten steigt unaufhörlich

Sowohl in Syrien als auch in der Türkei steigen die Totenzahlen unaufhörlich. Zwar wurden Montagfrüh – eine Woche nach dem Beben – noch Menschen aus den Trümmern gerettet, doch die Hoffnung auf Wunder wie diese schwinden zusehends. Die Zahl der bestätigten Toten liegt inzwischen bei mehr als 37.500, mehr als 80.000 Menschen wurden verletzt. UNO-Nothilfekoordinator Griffiths rechnete am Wochenende mit mindestens 50.000 Toten.

ORF-Korrespondentin Wagner über die Bergungsarbeiten

ORF-Korrespondentin Katharina Wagner berichtet über die Bergungsarbeiten in der Türkei. Auch sieben Tage nach dem Erdbeben werden Überlebende gefunden.

Die WHO gibt die Zahl der Toten in Syrien mit 5.900 an, die Dunkelziffer liegt wohl weit darüber. In der Türkei sind derzeit 31.643 Todesopfer erfasst, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Montag unter Berufung auf die Katastrophenschutzbehörde AFAD. Mehr als 80.000 Menschen wurden verletzt. Tausende Menschen werden noch vermisst. Auch nach 175 Stunden oder mehr unter Trümmern wurden in der Türkei noch vereinzelt Menschen gerettet.

Weißhelme rufen einwöchige Trauer aus

In der Provinz Hatay sei am Montagmorgen eine Frau lebend geborgen worden, berichtete die Tageszeitung „Hürriyet“ – eine weitere Person nach 176 Stunden. Auch aus der Provinz Gaziantep gab es gute Nachrichten: Die Retter holten eine 40-Jährige nach 170 Stunden lebend aus der Ruine eines fünfstöckigen Hauses, wie der staatliche Staatssender TRT berichtete.

Die Rettungsorganisation Weißhelme, die im Nordwesten Syriens nach Opfern sucht, rief unterdessen eine einwöchige Trauer aus. Das deutet darauf hin, dass die Retter nicht mehr davon ausgehen, unter den Trümmern noch Überlebende zu finden.

Bundesheer beendet Einsatz

Unterdessen beenden internationale Hilfsorganisationen ihren Einsatz im Krisengebiet. Auch die Soldaten und Soldatinnen des Bundesheeres rückten vom Einsatzort ab, der Rückflug soll aber erst am Donnerstag erfolgen. Die Helferinnen und Helfer wurden am Sonntag zu keinem Einsatz mehr angefordert. Ein Rettungs- und Bergeteam bleibt für etwaige Anforderungen bis Montagmittag einsatzbereit.

Seit vergangenen Dienstag waren 82 Soldatinnen und Soldaten der Austrian Forces Disaster Relief Unit (AFDRU) in der schwer betroffenen türkischen Provinz Hatay im Einsatz – mehr dazu in noe.ORF.at. Am Montag wurde mit dem Abbau des Feldlagers begonnen. Die Rettung von Menschen werde „aufgrund der fortgeschrittenen Zeit immer unwahrscheinlicher“, sagte Einsatzleiter Bernhard Lindenberg.

Österreich: Keine Änderung der Visakriterien

Gleichzeitig will Österreich Bebenopfer oder deren Angehörige durch eine raschestmögliche Prüfung ihrer Visumsanträge unterstützen, aber die Kriterien nicht ändern.

Aus dem Innenministerium in Wien hieß es am Montag auf APA-Anfrage, die österreichischen Vertretungen, bei denen die Anträge zu stellen sind, würden die im gesetzlichen Rahmen bestehenden Möglichkeiten dafür nutzen. Die Prüfung erfolge weiterhin auf Grundlage der bisher geltenden Kriterien.

Für die Einreise nach Österreich aus Syrien oder der Türkei ist laut Innenministerium per Gesetz ein gültiges Visum vorgesehen. Die Voraussetzungen für die Erteilung eines Visums seien in einem individuellen Verfahren zu prüfen, hieß es.