Blick auf Menschenmenge, Vogelperspektive
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„Normal“

Risiken eines Allerweltsbegriffs

In Österreich ist „Normalität“ eingekehrt – zumindest was die Sprache betrifft. Zuletzt war in der Innenpolitik oft von „normal denkenden Menschen“ und der „normal denkenden Mitte“ die Rede. Schnell entzündete sich eine Debatte über die Frage, wer bestimmt, was als „normal“ zu gelten hat. Der Allerweltsbegriff birgt nämlich auch viele Risiken.

In den vergangenen Wochen ist man am Begriff „normal“ partout nicht vorbeigekommen. Auslöser war ein Kommentar von Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Im „Standard“ sprach sie gleich mehrmals von „normal denkenden Menschen“. Es sei wichtig, „auch Kante für die normal denkende Mitte unserer Gesellschaft zu zeigen“. Diese Linie wird von der Bundespartei ebenfalls vertreten. Laut einem „Trend“-Artikel sei ÖVP-intern vorgegeben worden, die Partei solle sich der Politik „für die normalen Menschen“ verschreiben.

„Normal“ und „Normalität“ gelten als unverdächtige Begriffe, sagt die deutsche Politikwissenschaftlerin Astrid Seville im ORF.at-Gespräch. Es sei nicht verwerflich, sich etwa in Krisenzeiten mehr Normalität im Sinne von Stabilität und Ruhe zu wünschen. Problematisch sei, dass der Begriff der Normalität politisch instrumentalisiert wird. „Wer bestimmt denn, was normal ist? Was ist für wen normal?“, fragt Seville, die an der Technischen Universität München Politische Theorie und Philosophie lehrt.

Wer oder was ist normal?

Die Frage, was denn normal ist, hängt in erster Linie von der Person ab, die diese Frage beantwortet. Für Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sind die Extreme jedenfalls „nicht normaldenkend“, wie er in der ZIB2 sagte. Gleichzeitig stellte der Parteichef auch klar, dass es in einer Demokratie um Mehrheiten geht. „Es ist total in Ordnung, wenn wir sagen, dass es Ausnahmen gibt, aber es ist schlecht, wenn die Ausnahme die Regel wird und damit sozusagen für die Mehrheit immer als Verpflichtung gesehen wird“, sagte der ÖVP-Chef.

Während der Kanzler das Schnitzel und das Auto als Beispiele für die Meinung der Mehrheit anführte, war für Landeshauptfrau Mikl-Leitner die Diskussion über das Gendern in Niederösterreich Anlass, um über die „normal denkende Mitte“ zu schreiben. Diese würde pragmatische Lösungen wollen und eine Politik, die sich mit „wichtigen Themen“ beschäftigt, meinte die ÖVP-NÖ-Chefin. Allerdings seien „die anderen“, die Ränder und Extreme, lauter. Die „Normaldenker“ fühlten sich nicht gehört: „Ja, der Hausverstand scheint manchmal abgeschafft.“

Im „profil“ nannte Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) die „Normalo“-Rhetorik „präfaschistoid“. Wörtlich übersetzt hielt er der ÖVP vor, sich in einer Vorstufe einer faschismusähnlichen Diktion zu befinden. In der ZIB2 sagte er, dass es in der Zwischenkriegszeit „genau diese Sprache“ und „genau diese Aufteilung“ der Norm gegeben habe, also in normal und abnormal. Julia Herr (SPÖ) sagte in der „Presse“, dass nicht Mikl-Leitner beurteilen „kann und soll“, was oder wer normal sei. Aus der ÖVP hieß es: Man werde sich den Begriff nicht verbieten lassen.

„Spielball für Projektionen“

Die ÖVP ist nicht die einzige Partei, die auf „Normalität“ setzt. FPÖ-Chef Herbert Kickl richtete zum Beispiel vor zwei Jahren seinen Fans auf Facebook aus: „Wer Rot-Weiss-Rot statt Regenbogen will, ist nicht extrem, sondern normal.“ Auch bei einer Pressekonferenz blitzte im Hintergrund „Österreich normal“ auf. Für die Bundestagswahl 2021 plakatierte die AfD „Deutschland, aber normal“. Und zuletzt meinte CDU-Chef Friedrich Merz: „Es gibt doch inzwischen Shitstorms gegen jeden und alles, was von der Mehrheit als normal gesehen wird.“

FPÖ-Bundesparteiobmann Herbert Kickl mit einem „Österreich Normal“ Transparent bei einer PK 2021
APA/Herbert Pfarrhofer
„Österreich normal“ – auch FPÖ-Chef Herbert Kickl setzt auf „Normalität“ in der Politik

In der Politik sei der Normalitätsbegriff seit einiger Zeit „attraktiv“, meint Seville. Zum einen, weil er „hochgradig normativ“ verwendet werden könne, zum anderen, weil er als „Spielball für Projektionen“ diene. Jede Person habe eine gewisse Vorstellung davon, was in einer Gesellschaft normal sein soll.

Daher müsse eine Partei nicht einmal unbedingt konkret werden, wenn sie von Normalität spricht. Formuliert eine Partei einen vagen Normalitätsbegriff, entstehe eine Projektionsfläche, mit der sich Vorstellungen von Zugehörigkeit verbinden lassen. Gleichzeitig werde damit implizit bestimmt, was eben nicht unter Normalität zu fallen hat.

Das habe Auswirkungen auf die Art und Weise des Zusammenlebens. Denn was in einer Gesellschaft als normal angesehen wird, sei nicht immer gleichzusetzen mit dem, was sich Parteien unter „Normalität“ vorstellen und was sie sich davon erwarten. „Wird eine bestimmte Normalität politisch aufgeladen, will die Politik Grenzen ziehen. Gegenargumente können so diskreditiert und delegitimiert werden“, sagt Expertin Seville. „Wer anders denkt, ist abnormal, wer dagegen ist, ist nicht ganz bei Sinnen, wer anders ist, gehört nicht dazu.“

Normalitäten ändern sich im Laufe der Zeit

In eine ähnliche Richtung argumentiert Martin Reisigl. Es gebe nicht „die“ Normalität, sagt der Linguist von der Universität Wien im ORF.at-Gespräch. Zu bestimmten Zeitpunkten gebe es nämlich „verschiedene Normalitäten“ für unterschiedliche Menschengruppen. Nicht selten sei aber eine bestimmte Normalität vorherrschend, die sich „später auch als Fehler erweisen kann. Normalitäten ändern sich also im Laufe der Zeit“, sagt Reisigl und erinnert etwa an die „gesunde Watsche“, die von vielen Menschen lange Zeit als „normal“ angesehen wurde.

Bestimmte Normalitäten können und werden von Politikerinnen und Politikern etabliert und wiederholt. So meinte Landeshauptfrau Mikl-Leitner kürzlich in einem Interview in der „Kronen Zeitung“, es müsse erlaubt sein auszusprechen, „was die breite Mehrheit, also die Normaldenkenden, über die Klimakleber denken“. Die SPÖ hingegen verlässt sich seit geraumer Zeit auf das Diktum „unsere Leute“. In beiden Fällen nehmen Parteien für sich in Anspruch, für Menschengruppen zu sprechen, die sich scheinbar eine gemeinsame Normalität teilen.

Wenn die Politik von „Normalität“ spricht und damit verallgemeinerte Vertretungsansprüche verknüpft, sei Argwohn angezeigt. Wer die Normalitätsdefinition für sich in Anspruch nimmt und dabei ignoriert, dass verschiedene Normalitäten existieren, die nicht unveränderbar sind, impliziere, dass alternative Positionen abnormal sind, sagt Reisigl. Diese Zweiteilung bilde beispielsweise einen Teil des Weltbildes des Rechtspopulismus ab. „Das Nichtnormale gilt hier als unerwünschte Andersheit und wird ausgegrenzt oder lächerlich gemacht.“

Mit dem „Hausverstand“ eine Fassade bauen

In Zeiten, in denen eine Krise nach der anderen die Gesellschaft an ihre Grenzen bringt und am bewährten Alltag rüttelt, kann ein Stück Normalität freilich ein Rettungsanker sein. Routinen geben dem Leben auch Struktur und machen es planbar. Angesichts der Krisen wünschten sich viele scheinbar „normale Zeiten“ zurück, sagt Politikwissenschaftlerin Seville. „Normalität spielt mit der Idee von besseren Zeiten. Der Begriff hat einen nostalgischen Wert und bietet eine Gegenerzählung zu den schlechten Zeiten.“

Entschliessungsantrag eines Abgeordnteten
ORF
In der Politik dreht sich auch vieles um den „Hausverstand“

Reisigl spricht von einer „verbalen populistischen Beruhigungs- und Ablenkungspille“, die das Bedürfnis nach Sicherheit, Kontinuität und Halt befriedigen soll. In diese Reihe fällt auch das ständige Betonen einer „Politik mit Hausverstand“. Fast alle Parteien beriefen sich in den vergangenen Jahren auf den „Hausverstand“. In Gesetzesanträgen war von „Klimaschutz mit Hausverstand“, „Steuerpolitik mit Hausverstand“ und „Fleischtransport mit Hausverstand“ die Rede. Besonders oft fiel der Begriff während Nationalratsdebatten im Krisenjahr 2021.

„Wenn in der Politik der Begriff ‚Hausverstand‘ fällt, heißt es nichts anderes als: Die Politik gehorcht den Regeln und Gesetzen, die du auch kennst, die du auch in den eigenen vier Wänden umsetzen würdest“, sagt Seville. Der Verweis sei in dosierter Form vielleicht sogar positiv, weil versucht wird, das politische Handeln nahbarer und verständlicher zu machen.

Doch der „Hausverstand“ habe auch Schattenseiten: Zum einen können Diskussionen dadurch abgewürgt werden, weil Politiker kaum gegen den „normalen Hausverstand“ sprechen werden. Zum anderen werde die Politik dadurch gleichzeitig banalisiert. Die Politik baue eine „Fassade“ auf, wonach der Hausverstand diktiere, was in der Politik vor sich geht. Das riskiere eine „populistisch verzerrte Brille der Politik“, so Seville. Politik sei aber eine komplexe Angelegenheit, die sich nicht auf falsche Fassaden beschränken dürfe.

„Politiker sind nicht naiv, sie wissen, was sie sagen“

In der Debatte über Normalität kommt kaum zur Sprache, dass sich Menschen auch schon bisher ausgegrenzt fühlen konnten. Dafür braucht es zwar keine Begriffsdefinition. Dennoch könne die politische Rhetorik dafür sorgen, dass sich Personen, die bereits im Alltag diskriminiert wurden, verstärkt als „nicht normal“ sehen. „Wenn Sie Erfahrungen mit Ausgrenzung haben und Sie hören ständig, dass nur ein bestimmtes Verhalten normal sei, wie fühlen Sie sich dann?“, fragt Seville. Personen, die sich nicht mit der politisch definierten Normalität identifizieren, könnten sich weiter abgrenzen.

Eine Tafel mit der Aufschrift „Mein Hausverstand wählt“
APA/Helmut Fohringer
Auch bei Wahlen setzen Parteien auf den „Hausverstand“ – hier beim Wahlkampfabschluss 2021 der ÖVP Oberösterreich

Tatsache ist, dass es in einer Demokratie um Mehrheiten und Macht geht. In der Regel funktioniert die Überzeugungsarbeit über Wörter. Gegenüber den „einfachen rhetorischen Normalitätsrezepten“ sei aber immer Misstrauen angezeigt, sagt Reisigl. Wenn die Politik Normalität verallgemeinert oder sie sich populistisch auf „das Volk“ beruft, müsse man besonders achtsam sein. Der Sprachwissenschaftler rät, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass sich Grenzen von Normalitäten dynamisch verschieben.

Seville plädiert ebenfalls für eine Sensibilisierung, was die politische Sprache betrifft. Es sei nicht alles schwarz-weiß, bei Vorstellungen von „Normalität“ bestehe etwa eine Gleichzeitigkeit von Inklusion und Ausgrenzung. „Viele Begriffe hinterfragt man nicht, weil sie alltäglich sind. Aber Politiker sind nicht naiv, sie wissen schon, was sie sagen und tun“, sagt die Politikwissenschaftlerin. Selbst wenn Effekte, die die politische Rhetorik auslöst, nicht beabsichtigt waren, müsse man Politikerinnen und Politiker mit ihrer Sprache konfrontieren.