EU-Kommissarin Margrethe Vestager
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EU-Digitalpolitik

Rückzug von Vestager hinterlässt Vakuum

Mit der Ankündigung Margrethe Vestagers, sich aus der Kommission zurückzuziehen, um für den Vorsitz der Europäischen Investitionsbank (EIB) zu kandidieren, entsteht ein Machtvakuum in der EU. Die Dänin, die unter anderem für Wettbewerb zuständig war, galt als „Schwergewicht“ der Kommission und war für ihr hartes Durchgreifen gegen Tech-Konzerne bekannt. Ihr Rückzug folgt auf weitere aktuelle Rochaden in dem Kollegium und könnte einen Richtungswechsel in der Digitalpolitik der EU zur Folge haben.

Vestager habe Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen über ihre Nominierung durch die dänische Regierung informiert und um unbezahlten Urlaub gebeten, teilte die Brüsseler Behörde Anfang der Woche mit. Sie kandidiere nun „offiziell für die Präsidentschaft der Europäischen Investitionsbank“, kündigte Vestager auf Twitter (X) an. Die EIB ist die Bank der EU und nach eigenen Angaben das größte multilaterale Finanzierungsinstitut der Welt.

Durch milliardenschwere Kredite unter anderem für den Klimaschutz, die Energie- und Digitalwirtschaft hat das Institut mit Sitz in Luxemburg in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Die Dänin muss sich aber noch gegen eine hochkarätige Konkurrentin aus Spanien durchsetzen. Sollte ihr das nicht gelingen, steht Vestager eine Rückkehr in ihr Amt als Kommissarin für Wettbewerb in der EU offen.

„Exzellenten Ruf erworben“

Bis dahin muss sie sich aber gemäß den EU-Vorschriften von ihren Aufgaben in der Kommission zurückziehen und hinterlässt ein „enormes“ Machtvakuum, das nicht ignoriert werden dürfe, schrieb die Plattform Euractiv. Vestager war unter anderem für Wettbewerb zuständig und hatte mit hochkarätigen Fällen gegen Big Tech und die reichsten Unternehmen der Welt Schlagzeilen gemacht. Auch mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump legte sie sich an.

„Mit mutigen und akribisch geführten Ermittlungen“ gegen die größten Konzerne der Welt habe sich die Dänin „einen exzellenten Ruf erworben“, schrieb auch das „Handelsblatt“. In ihrem Amt verhängte sie seit 2014 Milliardenstrafen gegen Internetriesen wie Google, Amazon und Apple, denen sie Missbrauch ihrer Marktmacht vorwarf. Viele entscheidende von Vestager initiierte Wettbewerbsverfahren sind nach wie vor offen, insbesondere eines gegen das Werbegeschäft von Google.

Die Kommission forderte im Juni, dass der Internetkonzern Teile seiner Werbedienste und damit Teile seiner Geldmaschine verkaufen muss. Auch die Fusion von Orange und MasMovil in Spanien wird derzeit untersucht. Es handelt sich um den zweit- und viertgrößten Mobilfunkbetreiber auf dem spanischen Markt, die Kommission möchte weniger Angebot bei gleichzeitig höheren Preisen verhindern.

Bericht: Hahn für „Kronjuwel“ aus Portfolio gehandelt

Den Posten des EU-Wettbewerbkommissars übernimmt nun vorübergehend EU-Justizkommissar Didier Reynders. Als „Kronjuwel“ in Vestagers derzeitigem Portfolio nannte die Plattform Euractiv die Generaldirektion für Wettbewerbspolitik (DG COMP). Sie setzt gemeinsam mit den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedsstaaten die EU-Vorschriften unmittelbar durch, damit alle Unternehmen „unter gerechten und fairen Bedingungen“ miteinander in Wettbewerb treten können.

Der österreichische EU-Kommissar Johannes Hahn, der derzeit für Haushalts- und Personalangelegenheiten zuständig ist, würde laut „drei mit der Angelegenheit vertrauten Quellen“ dafür gehandelt werden, die Kontrolle darüber zu übernehmen, so die Plattform. Der ÖVP-Politiker hat sich Euractiv zufolge durch seine strenge Kontrolle des EU-Haushalts die Sympathien der „frugalen“, also selbst erklärten sparsamen Länder Österreich, Dänemark, Niederlande und Schweden, erworben.

EU-Kommissar Johannes Hahn
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ÖVP-Politiker Hahn könnte laut Berichten die Kontrolle über die Generaldirektion für Wettbewerbspolitik übernehmen

Breton für „europäische Champions“

Wer die Wettbewerbsagenden zugewiesen bekommt, könnte die europäische Digitalpolitik jedenfalls auf lange Zeit prägen, schrieb das „Handelsblatt“ bereits im Vorjahr. Vestager sei eine liberale Wettbewerbshüterin und sehr darauf bedacht, dass sich der Staat möglichst wenig einmische. Binnenmarktkommissar Thierry Breton, der das Wettbewerbsressort für das nächste Mandat ins Auge gefasst habe, gilt hingegen als „Industriepolitiker französischer Schule“.

Sein erklärtes Ziel: Großen europäischen Unternehmen soll die Möglichkeit gegeben werden, sich zu konsolidieren, um im globalen Wettbewerb bestehen zu können. Dafür wäre er auch bereit, größere Summen Steuergeld in die Hand zu nehmen. Sein Ruf nach „europäischen Champions“ habe ihn zum Alptraum der „Freunde des Binnenmarktes“ gemacht, schrieb Euractiv.

Abgesehen von den Mitgliedsstaaten der EU könnte Bretons Ansatz zudem bei vielen Schlüsselpersonen in der EU-Wettbewerbsbehörde auf Ungnade stoßen. Ein anderer möglicher Kandidat für die „Frugalen“ sei Valdis Dombrovskis, der aber bereits für die Handelsangelegenheiten zuständig sei. Sollte Vestager nicht ersetzt und der Posten des Wettbewerbschefs unbesetzt bleiben, würden mehr Befugnisse in die Hände des derzeitigen Generaldirektors Olivier Guersent fallen.

EU-Kommission bei einer Sitzung
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Im kommenden Jahr wird auch eine neue EU-Kommission ernannt

„Politisierung“ der Kommission

Dass relativ viele Kommissarinnen und Kommissare ihr Amt zurücklegen, sei eine Entwicklung der letzten 20 Jahre, so der Politikwissenschaftler Josef Melchior gegenüber ORF.at. Durch die institutionellen Reformen seit dem Lissabonner Vertrag und die gestiegenen Anforderungen an die Kommission im Krisenmanagement sei es zu einer „Politisierung“ gekommen.

„Wurde der Kommission früher nachgesagt, sie sei hauptsächlich ein Abstellgleis für langgediente Politikerinnen, so ist eine Tätigkeit als Kommissarin bzw. Kommissar inzwischen für immer mehr Politikerinnen und Politiker zu einem Meilenstein einer internationalen politischen Karriere geworden“, so Melchior. Diese Karriere führe zu weiteren verantwortungsvollen Positionen entweder auf nationaler politischer Ebene, in internationalen Organisationen oder als Lobbyisten.

So kehrte auch der Niederländer Frans Timmermans, der in seinem Heimtatland als Spitzenkandidat eines rot-grünen Bündnisses antritt, der EU-Politik kürzlich den Rücken. Die Bulgarin Marija Gabriel, EU-Kommissarin für Innovation, Forschung, Kultur, Bildung und Jugend, will von Brüssel nach Sofia als Außenministerin wechseln. Und der jetzige Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, sieht sich „Politico“ zufolge der Kritik ausgesetzt, er würde sich nicht auf seine jetzige Aufgabe konzentrieren, sondern bereits auf „die nächste“ vorbereiten.

„Karrierechancen optimieren“

Nach der Europawahl zwischen dem 6. und 9. Juni 2024 werden die Karten in Brüssel neu gemischt, auch eine neue EU-Kommission wird dann ernannt. Gerade bei Timmermanns komme wohl die Logik des „Zweiebenenspiels“ aus nationaler und EU-Politik zum Tragen, so Peter Slominski, Politikwissenschaftler an der Universität Wien, gegenüber ORF.at. Die meisten Politikerinnen und Politiker würden aber als „rationale Akteure“ sehr wohl ihre Karrierechancen optimieren wollen.

Und „je näher die Wahlen anstehen, desto mehr denken die Personen darüber nach, was sie als Nächstes machen, auch abhängig von Alter und Dynamiken auf der nationalen Ebene“. Dass das vor den EU-Wahlen gehäuft auftrete, könne auch daran liegen, dass es für einige „vielleicht unsicher ist, ob sie in der nächsten Kommission wieder von der Regierung ihres Heimatstaates nominiert werden“.