Polnische und EU-Fahne
APA/AFP/Wojtek Radwanski
Polen wählt Parlament

Entscheidung mit Tragweite für ganz Europa

Polen wählt am Sonntag ein neues Parlament, etwa 30 Millionen Menschen sind stimmberechtigt. In Umfragen liegt die seit 2015 regierende rechtsnationalistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) konstant vor der Bürgerkoalition, dennoch scheint ein Machtwechsel nicht ausgeschlossen. Die Wahl ist auch eine Entscheidung über die Zukunft Polens in der EU – und darüber, in welche Richtung sich Europa bewegt.

„Wissen Sie, wo Sie das Programm der Opposition lesen können?“, fragte PiS-Ministerpräsident Mateusz Morawiecki kürzlich bei einem Wahlkampfauftritt. „In deutschen Zeitungen.“ In dieser Tonalität lief der gesamte, von Affären überschattete Wahlkampf in Polen ab. Hauptziel schien es, den politischen Gegner schlechtzumachen, die PiS packte dafür das alte Feindbild Deutschland aus.

PiS-Vertreter betonten wiederholt, die deutsche Regierung versuche, die Richtung in Warschau mit Diktaten zu bestimmen – sei es in der Migrations-, sei es in der Energiepolitik. Oppositionsführer Donald Tusk wurde als Marionette Deutschlands dargestellt. Auch die Europäische Union wurde von der PiS als verlängerter Arm Berlins bezeichnet, schließlich hätten die Deutschen den größten Einfluss in Brüssel.

Donald Tusk
Reuters/Kacper Pempel
Tusk sah sich im Wahlkampf scharfer Kritik und persönlichen Angriffen der Regierungspartei ausgesetzt

Visaaffäre platzte in Wahlkampf

Die PiS-Regierung führt seit Jahren einen Machtkampf mit Brüssel wegen ihrer Justizreform, die von Kritikern und Kritikerinnen als Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie verurteilt wird. Auch in der Flüchtlingspolitik liegt Warschau mit Brüssel über Kreuz. So stemmte sich Polen an der Seite Ungarns vehement gegen die jüngst getroffenen Kompromisse bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems.

Angeheizt wurde die Stimmung noch, als im Wahlkampf aufgedeckt wurde, dass das polnische Außenministerium und die konsularischen Dienste Menschen aus Afrika, Asien und dem Nahen Osten massenweise Visa gegen Geldleistungen ausgestellt hatten – während die PiS gleichzeitig gegen Migranten und Migrantinnen hetzte.

Konflikt mit Kiew

Unmittelbar darauf eskalierte der Streit zwischen Warschau und Kiew über ukrainische Getreideexporte. Polen, Ungarn und die Slowakei erklärten, sie würden sich nicht an das von der EU-Kommission beschlossene Ende der Handelsbeschränkungen für ukrainisches Getreide halten.

Wahlmodus

Das Parlament in Polen besteht aus zwei Kammern: dem Sejm und dem Senat. Beim Sejm handelt es sich um das Unterhaus. Die 460 Abgeordneten werden nach dem Verhältniswahlrecht für vier Jahre gewählt. Die Sperrklausel liegt bei fünf Prozent beziehungsweise acht Prozent bei Parteienbündnissen. Bei der Senatswahl beträgt die Legislaturperiode ebenfalls vier Jahre. Hier gilt das „Winner takes all“-Prinzip. 100 Mitglieder des Senats werden in 100 Wahlkreisen gewählt.

Zudem drohte Polen damit, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzuschränken. Dabei war es das NATO- und EU-Land Polen, das zu den größten Unterstützern und Waffenlieferanten der Ukraine seit dem russischen Angriff auf das Land vor bald zwei Jahren zählte.

Generell hat der russische Angriff auf das Nachbarland Ukraine in Polen viel in Bewegung gebracht. Das Land hat eine knappe Million Kriegsvertriebene aufgenommen, sein Status als NATO-Partner wurde durch die enge Allianz mit Kiew stark aufgewertet. Anders als in der Slowakei, wo sich der Linkspopulist Robert Fico gegen Militärhilfe für Kiew aussprach und diese Woche als Premier bestätigt wurde, stellte bis vor Kurzem in Polen lediglich die ultrarechte Konfederacja diese außenpolitische Position infrage. Fachleute gehen davon aus, dass sich der jüngste Konflikt zwischen Warschau und Kiew nach der Wahl rasch in Luft auflösen wird.

Koalitionspartner vonnöten

Umfragen zufolge wird die PiS am Sonntag wieder stärkste Partei, doch eine absolute Mehrheit scheint außer Reichweite. Als Koalitionspartner käme nur die Konfederacja infrage. Deren Chef Slawomir Mentzen allerdings schwörte im Wahlkampf: „Es wird keine Koalition mit der PiS geben“ – über die Ernsthaftigkeit dieser Aussage herrschen jedoch Zweifel. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski müsste gegebenfalls entweder genug Konfederacja-Abgeordnete mit lukrativen Posten in sein Lager locken oder eine von den Ultrarechten tolerierte Minderheitsregierung führen.

Auch ein Machtwechsel ist nicht ausgeschlossen. Die liberalkonservative Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) mit ihrem Spitzenmann Tusk liegt zwar in Umfragen deutlich hinter der PiS. Erst kürzlich brachte sie aber bei einer Großdemonstration im Zentrum von Warschau bis zu eine Million Menschen auf die Beine. „Wenn ich in diese Hunderttausenden lächelnden Gesichter sehe, dann spüre ich, dass der Wendepunkt in der Geschichte unseres Heimatlandes naht“, sagte Tusk.

„March of a Million Hearts“ in Warschau
Reuters/Slawomir Kaminski/Agencja Wyborcza.pl
Bis zu eine Million Menschen taten jüngst in Warschau ihren Unmut über die PiS-Regierung kund

Tusk, von 2014 bis 2019 Präsident des Europäischen Rates, ist erwartbar EU-freundlich. Er verspricht, einige Reformen der PiS rückgängig und die Justiz wieder unabhängiger zu machen – so sollen auch zurückgehaltene Fördermittel der EU ausgezahlt werden. Die PO könnte für eine Koalitionsregierung zwei weitere Parteien ins Boot holen: das Linksbündnis Lewica und den konservativ-proeuropäischen „Dritten Weg“.

Abstimmung über „totalitäre Demokratie“

Einig scheinen sich europäische politische Kommentatoren und Kommentatorinnen darin, dass die Wahl eine der wichtigsten des Jahres in Europa ist: Sollte Tusk die Macht zurückgewinnen, wäre eine wichtige Bastion des Rechtspopulismus auf dem Kontinent gefallen. „Eine Niederlage der PiS könnte positiv zu einer Neugewichtung innerhalb der EU beitragen und die destabilisierende Rolle des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban abschwächen, die kürzlich durch den Sieg von Robert Fico in der Slowakei und zuvor von Giorgia Meloni in Italien gestärkt wurde“, hieß es in der „Irish Times.

Dagegen, schrieb der „Guardian“, würde ein weiterer Sieg Kaczynski die Möglichkeit geben, das liberale Gegengewicht zur Hegemonie seiner PiS-Partei vollständig zu beseitigen und Polen näher an das heranzubringen, was ein Kommentator als „totalitäre Demokratie“ bezeichnet hat. In einer Zeit, in der die Europäische Union mit gewaltigen geopolitischen Herausforderungen konfrontiert ist, deren Bewältigung einen Geist der Einheit erfordert, wäre ein solches Ergebnis sowohl deprimierend als auch unheilvoll.

Jaroslaw Kaczynski
Reuters/Kacper Pempel
Kaczynski, der von 2006 bis 2007 Regierungschef war, gilt nach wie vor als der Mann, der in der Regierung den Ton angibt

Neben der Parlamentswahl findet am Sonntag auch ein höchst umstrittenes Referendum statt. Wählerinnen und Wähler sollen vier Fragen zu verschiedenen Themen mit Ja oder Nein beantworten. Die Fragen beziehen sich auf die Privatisierung staatlicher Unternehmen, die Heraufsetzung des Pensionseintrittsalters, die Befestigung der Grenze zum östlichen Nachbarland Belarus sowie Migration in Europa. Die Opposition sowie politische Beobachterinnen und Beobachter kritisierten die PiS-Partei für die suggestiv formulierten Fragen. Die Regierung wolle migrationsfeindliche Stimmung schüren, um so am Wahltag mehr Stimmen zu bekommen, lautet der Vorwurf.