Israels Premier Benjamin Netanjahu
AP/Abir Sultan
Netanjahu in Interview

Nach Krieg weiter Kontrolle über Gaza

Nach dem Krieg gegen die Hamas im Gazastreifen will Israel nach Angaben von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die „gesamte Verantwortung für die Sicherheit“ in dem Palästinensergebiet übernehmen. Eine neuerliche Absage erteilte Netanjahu der Forderung nach einer generellen Feuerpause – Israel sei aber zu „kleinen taktischen Pausen“ bereit.

Einen Monat nach dem von der islamistischen Hamas in Israel verübten Massaker sind israelische Streitkräfte tief in den Gazastreifen vorgedrungen. Bodentruppen seien bereits in Gaza-Stadt im Einsatz und erhöhten dort den Druck, sagte Armeesprecher Daniel Hagari am Montagabend. Erklärtes Ziel Israels ist die Zerschlagung der im Gazastreifen seit 2007 herrschenden Hamas.

Netanjahu stimmte Israel unmittelbar nach Beginn der israelischen Offensive im Gazastreifen auf einen „langen und harten Krieg“ ein – gegenüber dem US-Sender ABC News sagte Netanjahu nun, dass Israel auch nach dem Gaza-Krieg „für unbestimmte Zeit die gesamte Verantwortung für die Sicherheit (…) übernehmen“ werde. Andernfalls würde es zu einem „Ausbruch des Terrors der Hamas“ in einem unvorstellbaren Ausmaß kommen, so Netanjahu: „Wir haben gesehen, was passiert, wenn wir sie (die Verantwortung, Anm.) nicht haben.“

Israel wird Kontrolle in Gaza übernehmen

Israel wird nach den Worten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu für unbestimmte Zeit die Verantwortung für die Sicherheit im Gazastreifen behalten. „Wir haben gesehen, was passiert, wenn wir sie nicht haben“, sagte Netanjahu in einem Interview mit dem US-Sender ABC.

„Gewisse Verantwortung“

In diesem Zusammenhang räumte Netanjahu nach den Worten von ABC News auch ein, „dass er eine gewisse Verantwortung für das Versagen des Geheimdienstes trägt, das dazu führte, dass sein Land von dem Hamas-Angriff am 7. Oktober überrascht wurde“.

Hunderte Hamas-Kämpfer hatten am 7. Oktober Israel überfallen und in einer Reihe von Ortschaften und bei einem Musikfestival Gräueltaten an Zivilisten verübt. Nach israelischen Angaben wurden etwa 1.400 Menschen getötet, mehr als 240 weitere wurden als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.

Als Reaktion auf den Hamas-Angriff startete Israel Luftangriffe auf den dicht besiedelten Gazastreifen und leitete eine Bodenoffensive ein. Nach Angaben des von der Hamas geleiteten Gesundheitsministeriums in dem Gebiet wurden dabei inzwischen mehr als 10.000 Menschen getötet, darunter mehr als 4.000 Kinder.

Geiselfreilassung als Bedingung für Feuerpause

Eine generelle und zuletzt auch von UNO-Generalsekretär Antonio Guterres erneut geforderte Feuerpause werde es vorerst nicht geben, so Netanjahu. Sie würde nach Einschätzung von Netanjahu den Kriegszielen Israels entgegenstehen. „Das würde unsere Bemühungen behindern, unsere Geiseln zu befreien, denn das Einzige, was diese Kriminellen der Hamas verstehen, ist der militärische Druck, den wir ausüben“, sagte er im ABC-Interview.

Israel sei aber weiter zu „taktischen Pausen“ bereit. „Eine Stunde hier, eine Stunde dort“, was das angehe, werde man weiter „die Umstände prüfen“, um etwa „humanitäre Güter hineinzubringen und einzelne Geiseln herauszubringen.“

Telefonat mit US-Präsident Biden

Unmittelbar zuvor hatte Netanjahu mit US-Präsident Joe Biden über zeitlich begrenzte Feuerpausen gesprochen. Sie hätten die Möglichkeit „taktischer Pausen“ erörtert, um der Zivilbevölkerung die Möglichkeit zu geben, Kampfgebiete zu verlassen, um humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen bereitzustellen und um die Befreiung weiterer Geiseln zu ermöglichen, teilte das Weiße Haus nach dem Telefonat am Montag mit.

Die USA und Israel würden über solche vorübergehenden Unterbrechungen aus humanitären Gründen und wegen möglicher Geiselbefreiungen in Kontakt bleiben, sagte John Kirby, Sprecher des Weißen Hauses. Die beiden Regierungschefs hätten vereinbart, die Gespräche in den kommenden Tagen fortzusetzen.

„Über den Tag hinaus denken“

Die Zukunft des Gazastreifens nach Kriegsende ist indes auch zentrales Thema beim Treffen der G-7-Außenministerinnen und -Außenminister am Dienstag und Mittwoch in Tokio. Es gehe darum, „über den Tag hinaus zu denken, etwa praktische Schritte zu erörtern hin zu einer Zweistaatenlöstung“, sagte Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock vor ihrem Abflug nach Japan.

Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid sprach sich zuletzt dafür aus, dass die Palästinensische Autonomiebehörde nach dem Krieg in Gaza dort wieder die Kontrolle übernehmen sollte. Der ehemalige Regierungschef sagte am Montag gegenüber der deutschen „Welt“: „Meine Exitstrategie ist anders als die der Regierung.“ Man solle die Palästinenserbehörde von Präsident Mahmud Abbas dorthin zurückbringen.

Israels Armee hatte sich 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Die islamistische Hamas siegte im Jahr darauf bei einer Parlamentswahl. 2007 übernahm sie gewaltsam die alleinige Kontrolle über den Gazastreifen. Die Fatah-Kräfte von Abbas vertrieb sie weitgehend.

Abbas stellt Bedingungen

Lapid sagte, es gebe in Gaza zwar nur noch wenige Vertreter der Behörde, sie verfüge aber noch über eine Infrastruktur. Mit Blick auf den Rückhalt von Abbas im Westjordanland sagte Lapid, in Städten wie Dschenin und Nablus sei die Lage „weniger unter Kontrolle, als man es wünschen würde“. Anderswo im Westjordanland funktioniere es besser, sagte Lapid. „Unter den schlechten Wahlmöglichkeiten ist das die am wenigsten schreckliche.“

Abbas äußerte am Sonntag bei einem Treffen mit US-Außenminister Antony Blinken die Bereitschaft, „volle Verantwortung“ für den Gazastreifen zu übernehmen, aber nur als Teil eines „Pakets“ mit einer umfassenden politischen Lösung auch für das Westjordanland und Ostjerusalem. Die Palästinenser beanspruchen diese Gebiete für einen eigenen Staat.

Aus Westjordanland angelehnte Vorgangsweise?

Was genau Netanjahu mit seiner Ankündigung, auch nach dem Krieg für Sicherheit im Gazastreifen verantwortlich bleiben zu wollen, meint, sei aus Beobachtersicht schwer zu sagen. Es könnte sich „um eine Art von Besatzung handeln, die keine kommunalen Zuständigkeiten beinhaltet“, mutmaßte etwa die BBC.

Der Begriff „Sicherheitsverantwortung“ sei bereits aus dem Westjordanland bekannt, wie die BBC mit Verweis auf die Osloer Verträge, das erste israelisch-palästinensische Friedensabkommen aus den 1990er Jahren, erinnerte. Das umfasst unter anderem die Vereinbarung, dass Teile des Westjordanlands unter palästinensischer kommunaler Kontrolle und israelischer Sicherheitsverantwortung stehen sollten.

„Mit anderen Worten: Die Israelis konnten kommen und gehen, wie sie wollten, um das Gesetz durchzusetzen und die Ordnung aufrechtzuerhalten, aber die alltäglicheren Aufgaben wie Müllabfuhr und Schulbetrieb sollten von den Palästinensern erledigt werden“, so die BBC.