Flüchtende Palästinenser
AP/Hatem Moussa
Gazastreifen

Über zwei Drittel auf der Flucht

Seit Beginn des Krieges im Gazastreifen sind dort nach UNO-Angaben etwa 70 Prozent der Bevölkerung vertrieben worden. Das teilte das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) am Dienstag mit. UNO-Chef Antonio Guterres bezeichnete die Lage im Gazastreifen am Vortag als „Krise der Menschheit“. Israel schloss im Kampf gegen die Hamas indes weiter eine Waffenruhe aus – vielmehr rief die israelische Armee die in Nordgaza verbliebenen Zivilisten erneut zur Flucht in den Süden des Küstenstreifens auf.

Den israelischen Angaben zufolge sei am Dienstag erneut ein Fluchtkorridor geöffnet worden. Zusammen mit dem neuerlichen Evakuierungsaufruf veröffentlichen die israelischen Streitkräfte unter anderem auf Twitter (X) ein Video, in dem eine Menschenkarawane mit weißer Flagge zu sehen ist.

Israel ist zuletzt mit Bodentruppen in dicht besiedeltes Gebiet im Norden des Gazastreifens, darunter nach Gaza-Stadt, vorgerückt und hat das Küstengebiet nach eigenen Angaben komplett in zwei Teile geteilt. Der Zivilbevölkerung solle es aber weiterhin möglich sein, in den Süden zu fliehen, teilte das israelische Militär mit.

„Zu Ihrer eigenen Sicherheit: Nutzen Sie diese Möglichkeit, um sich in den Süden zu begeben“, hieß es von der Armee. Einwohnerinnen und Einwohner von Gaza-Stadt zufolge brachte das israelische Militär seine Panzer hauptsächlich in der Nacht in Stellung. Das könnte darauf hindeuten, dass israelische Truppen die vor Kurzem umzingelte Stadt stürmen könnten.

UNRWA: Bedingungen von Tag zu Tag schlechter

Auf die innerhalb des Gazastreifens auf der Flucht befindliche Bevölkerung warten UNRWA-Angaben zufolge unmenschliche Bedingungen, die sich mit jedem Tag verschlechtern. Von den rund 2,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern des Gazastreifens kamen laut UNRWA mittlerweile rund 1,2 Millionen Menschen in etwa 240 UNO-Einrichtungen unter.

In einer Unterkunft stünden pro Person weniger als zwei Quadratmeter zur Verfügung. Mindestens 600 Menschen würden sich dort eine Toilette teilen. Es gebe Tausende Fälle von Infektions- und Durchfallerkrankungen sowie Windpocken.

„Es sind jetzt 30 Tage. Genug ist genug. Es muss jetzt enden“, teilten weitere UNO-Organisationen wie das Nothilfebüro (OCHA), das Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), das Kinderhilfswerk (UNICEF), die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Welternährungsprogramm (WFP) sowie etwa die Hilfsorganisationen CARE und Save the Children am Montag mit.

UNO-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnete die Situation im Gazastreifen als „Krise der Menschheit“. Er forderte erneut eine sofortige Freilassung der nach Gaza verschleppten Geiseln und einen humanitären Waffenstillstand.

Netanjahu weiter gegen Waffenstillstand

Eine Absage dazu kam kurz darauf von Israels Premier Benjamin Netanjahu: „Das würde unsere Bemühungen behindern, unsere Geiseln zu befreien, denn das Einzige, was diese Kriminellen der Hamas verstehen, ist der militärische Druck, den wir ausüben“, so Netanjahu, der in einem ABC-News-Interview lediglich Israels Bereitschaft zu „taktischen Pausen“ einräumte.

„Eine Stunde hier, eine Stunde dort“, was das angehe, werde man weiter „die Umstände prüfen“, um etwa „humanitäre Güter hineinzubringen und einzelne Geiseln herauszubringen“, sagte der israelische Premier.

Von Rotem Kreuz begleitete Krankentransporte

Nach einer zweitägigen Schließung ist ägyptischen Angaben zufolge seit Montag der Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten wieder für die Ausreise von Ausländerinnen und Ausländern, Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft und Verletzte geöffnet.

Mit Blick auf die Krankentransporte ist eigenen Angaben zufolge seit Wochenbeginn auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Gazastreifen im Einsatz. Vier Krankenwagen seien mit IKRK-Unterstützung in Rafah angekommen. Zwei Fahrzeuge hätten den Konvoi begleitet, teilte die Organisation am Montagabend mit. Der Leiter des IKRK-Büros in Gaza, William Schomburg, kündigte zudem für Patientinnen und Patienten im größten Krankenhaus, dem Al-Schifa-Spital in Gaza-Stadt, Unterstützung bei der dort dringend benötigten ärztlichen Versorgung an.

Ägypten bestätigt Ausreise von Patienten

Aus ägyptischen Sicherheitskreisen hieß es, 17 Patienten seien mit Hilfe des IKRK am Montagabend aus dem Gazastreifen nach Ägypten gelangt. In der vergangenen Woche hatten bereits Dutzende verletzte Palästinenser und Hunderte Ausländer den Gazastreifen über den Grenzübergang Rafah verlassen können. Am Samstag und Sonntag war dieser geschlossen worden, nachdem die israelische Armee einen Krankenwagen im Gazastreifen beschossen hatte.

Bei dem Vorfall in der Stadt Gaza waren nach Angaben des von der radikalislamischen Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums 13 Menschen getötet worden. Die israelische Armee bekannte sich zu dem Angriff, erklärte aber, das Fahrzeug sei von einer „Terrorzelle der Hamas“ genutzt worden.

Die radikalislamische Hamas hatte eine sichere Ausreise von Verletzten aus dem Gazastreifen zur Bedingung für eine weitere Öffnung des Grenzübergangs gemacht. Aus Kreisen in der Hamas-Verwaltung verlautet Agenturberichten zufolge, die Öffnung sei nach einer durch Ägypten vermittelten Zustimmung Israels zur Ausreise von 30 Verwundeten erfolgt.

Roter Halbmond: Im Schnitt 33 Lkws pro Tag

Rafah war am Mittwoch erstmals seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas für die Ausreise von Ausländern und Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft sowie Verletzte geöffnet worden. Zuvor durften nur Hilfskonvois die einzige nicht von Israel kontrollierte Grenze passieren.

ORF-Bericht zur aktuellen Lage in Nahost

Nikolaus Wildner (ORF) berichtet aus Tel Aviv. Er erklärt, wie er die Zukunft des Krieges einschätzt. Karim El-Gawhary (ORF) ist unterdessen in Kairo und gibt eine Einschätzung zu den derzeitigen Gefahren.

Nach Angaben des Palästinensischen Roten Halbmonds kommen derzeit pro Tag im Schnitt 33 Lastwagen mit Hilfsgütern im Gazastreifen an. Insgesamt seien seit der Wiederöffnung des Grenzübergangs am 21. Oktober 569 Lkws angekommen, darunter 93 Lkws am Montagabend. Nach UNO-Angaben sind täglich 100 Lkw-Ladungen notwendig, um die mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen mit dem Nötigsten zu versorgen.

Von der WHO hieß es indes, dass alles für weitere Hilfslieferungen bereit sei: „Alles ist bereit, die Logistik ist da, die Konvois sind da, die Lieferungen sind da, was nicht da ist, ist der Zugang“, sagte WHO-Sprecher Christian Lindmeier. Nach aktuellen Zahlen der UNO haben seit Ausbruch des Krieges vor einem Monat insgesamt 500 Lastwagen den Gazastreifen erreicht.

Lazarett aus Emiraten und Jordanien

Angesichts der dramatischen Lage wollen die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) dort ein Feldkrankenhaus errichten. Auf Anweisung des emiratischen Präsidenten Mohammed bin Sajid Al Nahjan solle das Krankenhaus der palästinensischen Bevölkerung in dem Küstengebiet notwendige medizinische Hilfe bereitstellen, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur WAM.

Fünf Flugzeuge seien bereits von Abu Dhabi aus mit der notwendigen Ausrüstung für das Krankenhaus abgeflogen. Die Fracht sollte im ägyptischen al-Arisch ausgeladen und dann in den Gazastreifen gebracht werden. Das Feldkrankenhaus solle mit 150 Betten ausgestattet sein und verschiedene medizinische Fachrichtungen abdecken.

Im Hilfseinsatz sind auch die jordanischen Luftstreitkräfte. Diese warfen in der Nacht auf Montag eigenen Angaben zufolge erstmals medizinische Hilfsgüter und Medikamente per Fallschirm über einem jordanischen Feldlazarett in Gaza ab. Wegen Verzögerungen bei den Lieferungen aus Ägypten seien die Vorräte dort nahezu ausgegangen. Die Arbeit im Feldlazarett werde trotz der Lieferengpässe fortgesetzt.

Volker Türk in Kairo, Rafah und Amman

Angesichts der sich verschlechternden Lage im Gazastreifen reiste am Dienstag der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, für fünf Tage in den Nahen Osten. Er wolle sich mit Vertretern von Regierungen und der Zivilgesellschaft über Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Eskalation im Gazastreifen austauschen, so Türk. Es sei ein ganzer Monat des Massakers, unaufhörlichen Leides, des Blutvergießens, der Zerstörung, Empörung und Verzweiflung gewesen.

„Menschenrechtsverletzungen sind die Ursache dieser Eskalation, und Menschenrechte spielen eine zentrale Rolle, um einen Ausweg aus diesem Strudel des Schmerzes zu finden.“ Am Dienstag ist zunächst die ägyptische Hauptstadt Kairo Türks Ziel, am Mittwoch wird er Rafah besuchen. Für Donnerstag sind Beratungen des österreichischen UNO-Hochkommissars in der jordanischen Hauptstadt Amman geplant.