Ana Marwan nach der Preisverleihung
ORF
Stille Siegerin

Ana Marwan holt den Bachmannpreis

Ana Marwan heißt die Trägerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2022. Die in Slowenien geborene Autorin überzeugte mit ihrem brüchigen Text „Wechselkröte“. Elias Hirschl holt wie erwartet den Publikumspreis. Die viel diskutierte Arbeit von Barbara Zeman geht bei den fünf Preisen leer aus. Marwan überzeugte mit einem Text, der Einsamkeit und den Zwang zur stilisierten Selbstdarstellung knapp und schonungslos vorführt.

„Mein Text spricht viel besser als ich“, sagte eine überwältigte Ana Marwan am Sonntagmittag bei der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises im ORF-Landesstudio Klagenfurt. Marwan war von vielen für diesen stillen Text favorisiert worden, hatte aber bekannte Namen wie Hirschl und Zeman neben sich. Und auch den Texten von Juan S. Guse und Alexandru Bulucz waren im Vorfeld Chancen auf den Preis eingeräumt worden.

Gewonnen hat und prämiert wurde eine Literatur, die sich an die Fragestellungen des Alleinseins, der Position als Frau in einer auf Selbstbilder fixierten Welt sorgsam und fragil herantastete. Und die auf schmückendes Beiwerk und großes Namedropping wie in anderen Texten bei diesem Wettbewerb getrost verzichten konnte, einfach schon deshalb, weil die Bilder wirkten und rasch in ihr Gegenteil kippten.

Bachmannpreis geht an Ana Marwan

Kastberger: „Sie treibt die Sprache vor sich her“

Er habe nicht gewusst, welche Wirkung dieser leise Text auf das Publikum ausüben würde, sagte Germanist Klaus Kastberger, der diesen Text vorgeschlagen hatte, in seiner Laudatio auf Marwan: „Marwan führt die deutsche Sprache so vor sich her, als hätte sie nie in einer anderen Sprache gelebt. Sie treibt die Sprache vor sich her“, zog Kastberger den Hut vor dieser Arbeit. Es gehe bei Marwan im Schatten der Pandemie um Einsamkeit, „es geht bei ihr aber auch um die Möglichkeiten einer neuen Situation“. Beeindruckt habe ihn die Gratwanderung, die dieser Text beschreite.

Eine Welt, in der alles „kümmerlich“ geworden ist

Eine Ich-Erzählerin berichtet in „Wechselkröte“ von den wenigen sporadischen Besuchen in ihrem Haus, vom Briefträger, für den sie sich nur für den Fensterblick anzieht, für den Gärtner, dem sie ganz gekleidet entgegentritt und mit dem sie die Welt der Farben und danach sich erkundet. „Leuten ist es egal geworden, wenn ihr Bestes kümmerlich geworden ist“, wird die Behauptung des Besten im täglichen Umgang der Sprache skizziert, während dahinter das Beste verfalle.

„Wir dürsten nach einer anderen Erde, die trocken ist“, schreibt Marwan. „Ich wollte, dass es wuchert.“ Marwan stellt eine sinnlich, schön wie abgründig brutale analoge Welt gegen alle digitalen Behauptungen, die die Gegenwart prägen. Ihr fragendes, aber dann auch wieder zupackendes Ich ist eines, das gegen all diese Behauptungen steht. In Zeiten der Pandemie lebe man nur noch im Sommer „ganz“. Alles in Marwans Welt ist aus der Übung gekommen: „Gelsennetze sind aus – das ist geteiltes Leid.“ Die Welt, sie lässt sich nicht „mit 40 Grad bunt waschen“. Und auch nicht im Modus des Erfahrungsersatzes „ergooglen“, so Marwan in einem präzisen, knappen Text, der zwischen Bildaufbau und Kippen aller Metaphern oszilliert.

Ana Marwan im ORF-Garten
Gerald Heidegger/ORF.at
Ana Marwan eröffnete den Tag zwei beim Ingeborg-Bachmann-Preis-Lesen, bei dem es seitens der Jury noch hitzig werden sollte

Ein „Gänsehauttext“, der die Jury beschäftigte

In der Jurydebatte sah Mara Delius in dem Text „ein feinsinniges Porträt einer Eremitin, der das Motiv der feministischen Literatur sehr zeitgemäß interpretiert“. Philip Tingler las den Beitrag nicht als Text eines gewählten Rückzuges, „sondern als Illustration einer spätmodernen Befindlichkeit und das Spiel mit der Notwendigkeit, gesehen zu werden“. Die Rolle des abwesenden Mannes als Funktion im Text war Juror Michael Wiederstein wichtig: Bevor der Mann retour komme, „kann alles abgesaugt werden“; die Frau entscheide sich gegen das Kind, gegen das Leben auf dem Land.

Ana Marwan: Porträt, Lesung und Diskussion

Die Sogwirkung des Textes und gerade die Widersprüchlichkeit und Rätselhaftigkeit der Bildwelten hielt die Juryvorsitzende Insa Wilke für eine Stärke dieser Arbeit. Kastberger ortete am Donnerstag nach der Lesung „einen Gänsehauttext“, der einen packe, „weil er viele Widersprüche aufbaut zwischen Idylle und Horror“.

Die Preisregeln

Die Kandidatinnen und Kandidaten sammeln Punkte der Jury, die sie am Samstagabend vergeben hat. Wer die meisten Punkte bekommen hat, gewinnt den Bachmannpreis. Alle weiteren Preise werden in absteigender Reihe nach der Punktezahl vergeben. Bei der Verleihung geht es bei den Preisen quasi „von unten nach oben“.

Ein knappes Rennen

In den anderen vier Kategorien, darunter auch beim Publikumspreis, punkteten ausschließlich Männer. Elias Hirschl hatte einen atemlosen Text zur Kälte im Bobo-Neoliberalismus vorgelegt, der viele an Ort und Stelle überzeugte, aber eigentlich doch so manche Längen hatte. Juan S. Guse und Alexandru Bulucz wiederum muss man zu den neuen, jungen Autoren zählen, die mit ihren Werken aufzeigten und Ansätze zeigten, Zustandsbeschreibungen in ihren Texten auch theoretisch zu unterfüttern.

Nicht durchsetzen konnte sich Barbara Zeman mit ihrem Venedig-Text. Ihre an Bachmann erinnernden Bildwelten und ein Namedropping-Exzess schien den einen berechtigt und voll poetischer Schönheit im Überfluss, den anderen wiederum komplett an jeglichem Ziel vorbeigehend.

Die Prämierten

  • Bachmannpreis: Ana Marwan (vorgeschlagen von Klaus Kastberger)
  • Publikumspreis: Elias Hirschl (vorgeschlagen von Klaus Kastberger)
  • Deutschlandfunkpreis: Alexandru Bulucz (vorgeschlagen von Insa Wilke)
  • KELAG-Preis: Juan S. Guse (vorgeschlagen von Mara Delius)
  • 3sat-Preis: Leon Engler (vorgeschlagen von Philipp Tingler)

Es ging um fünf Preise

Fünf Preise wurden vergeben: der Ingeborg-Bachmann-Preis (gestiftet von der Landeshauptstadt Klagenfurt am Wörthersee in der Höhe von 25.000 Euro), der Deutschlandfunk-Preis (gestiftet von Deutschlandradio in der Höhe von 12.500 Euro), der KELAG-Preis (gestiftet von der Kärntner-Elektrizitäts-Aktiengesellschaft in der Höhe von 10.000 Euro), der 3sat-Preis (in der Höhe von 7.500 Euro) und der BKS-Bank–Publikumspreis (gestiftet von der BKS Bank in der Höhe von 7.000 Euro).

Die Preisträger und Preisträgerinnen im Bild

Fotostrecke mit 5 Bildern

Ana Marwan nach der Preisverleihung
ORF
Sie selbst schien am meisten überrascht von ihrem Sieg: Ana Marwan holt den Bachmannpreis 2022
Elias Hirschl
ORF
Elias Hirschl, Fan des Publikums in Klagenfurt erhielt den Publikumspreis
Alexandru Bulucz
ORF
Alexandru Bulucz mit dem Deutschlandfunkpreis
Juan S. Guse
ORF
Juan S. Guse bekam den KELAG-Preis
Leon Engler
ORF
Leon Engler erhielt den 3sat-Preis

Bachmannpreis mit großer Textbreite

In Sachen Breite hatte der Bachmannpreis heuer einiges zu bieten. Und er stellt auch die Jury vor die Herausforderung, wie sie mit dem Mehr an eingereichten Erzählarten und Darbietungsformen von Texten umgehen muss. Viele der Autorinnen und Autoren beim Bachmannpreis haben Deutsch nicht als Erstsprache, stammen teils aus anderen Erzähltraditionen und machen genau diese Erfahrungen zum Gegenstand ihrer Texte, bzw. kommen mit ihren Erzählarten auch aus anderen Traditionen.

Zugleich, das merkt man, konkurriert Literatur dieser Tage mit anderen Erzählgenres, von Netflix-Plattformen bis zur ewigen Selbstthematisierung sozialer Plattformen. Die Jury hat teilweise noch ästhetisch hohe Erwartungen bzw. versucht, das zu verteidigen, wofür man sie einlädt: für die Beurteilung der Qualität von Texten. „Das“, so der umtriebige Juror Kastberger, „ist am Ende immer auch eine Geschmacksfrage, so sehr wir unterschiedliche objektive Kriterien in der Betrachtung heranziehen.“

Am Tag zwei wurde trefflich über den mit Querverweisen überladenen Text einer Zeman gestritten. Und auch im Finale über den Auftritt der Autorin Mara Genschel, die einen Text wie ein Fundstück und Rollenspiel präsentierte. „Beurteilen wir die Performance oder den Text oder beides?“, lautete die Frage in der Jury. Und vom Podium kam erstmals die Replik von Autorinnenseite: „Dass das eine Performance sei, sagen die ganze Zeit nur Sie, ich habe das nie behauptet.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Temperatur im Fernsehgarten schon so aufgeheizt, dass die Gefechte der Jury aus dem Studio nicht Kühlung, sondern Erregung bis zu einem gewissen Erschöpfungspunkt brachten. Aus dem ersten Lesetag hatte Alexandru Bulucz, den man hier vor allem über Arbeiten im Bereich der Lyrik kannte, aufgezeigt. Alle Tage und Lesungen wie Diskussionen sind nachzulesen und nachzusehen.

Das waren die Lesetage

Am Donnerstag lasen

  • Hannes Stein
  • Eva Sichelschmidt
  • Leon Engler
  • Alexandru Bulucz
  • Andreas Moster

Mehr dazu in Bulucz über Migrationstrauma als Favorit

Am Freitag lasen

  • Ana Marwan
  • Behzad Karim Khani
  • Usama Al Shahmani
  • Barbara Zeman
  • Mara Genschel

Mehr dazu in Es wurde heiß am Tag zwei

Am Samstag lasen

  • Leona Stahlmann
  • Clemens Bruno Gatzmaga
  • Juan S. Guse
  • Elias Hirschl

Mehr dazu in Abwedeln, Weltende, Bobohölle