Mann mit einer Zeitung
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„Scheindebatten“

Politsommer der Emotionen

Das Parlament pausiert, die Regierung tritt nur vereinzelt auf: Doch an Debatten mangelt es deshalb kaum. Der innenpolitische Sommer glänzte bisher mit Debatten über „Normalität“, Bargeld in der Verfassung und der weiblichen Form in Gesetzen. Oft ist von „Scheindebatten“ die Rede, die sachlich enden wollend, dafür aber emotional äußerst aufgeladen sind.

Das Spiel mit Emotionen ist Teil der Politik. Insbesondere in Zeiten, in denen um Mandate oder um politische Entscheidungen gerungen wird, versuchen Parteien die Gefühle der Bevölkerung anzusprechen. Auch dieser Sommer scheint so eine Phase zu sein. Regulär wird zwar erst im Herbst 2024 der Nationalrat gewählt (die EU-Parlamentswahl findet im Sommer statt). Doch schon jetzt werden Themen platziert, deren Umsetzungschance vage ist, die aber die Wogen hochgehen lassen.

Das jüngste Beispiel ist die Forderung, das Bargeld in die Verfassung zu verankern. Begründet wurde die Idee mit einer „Verunsicherung“ in der Bevölkerung. „Ob begründet oder nicht: Es gibt bei den Menschen die Sorge, dass das Bargeld abgeschafft werden könnte“, betonte zuletzt Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner. Fachleute hatten schon Zweifel an dem Vorhaben geäußert bzw. bekräftigt, dass das Bargeld über das Unionsrecht abgesichert sei.

Geldbörse mit Bargeld
ORF.at/Patrick Bauer
Geht es nach der ÖVP, soll das Bargeld verfassungsrechtlich geschützt werden

Grundsätzlich sei es für Parteien deutlich einfacher, Ängste zu schüren als Hoffnung zu wecken, sagt Politikberater Thomas Hofer im Gespräch mit ORF.at. „Negative Emotionen lassen sich besser kampagnisieren und werden von Medien schneller aufgegriffen. Hinzukommt, dass die Themen, die emotionalisieren, in sozialen Netzwerken nochmals zugespitzt werden“, betont er. Unter den Parteien würde die FPÖ das Spiel mit negativen Emotionen am stärksten nutzen, die ÖVP hole aber auf – wohl auch als „Wirkstoff gegen die FPÖ“ vor der nächsten Wahl.

Legitim, aber „wichtigere Themen“ diskutieren

Auch andere Parteien setzen bereits auf Themen, die wahlkampftauglich sind. Politologin Kathrin Stainer-Hämmerle sprach gegenüber ORF.at bereits von einem „Dauerwahlkampf“. NEOS-Parteichefin Beate Meinl-Reisinger zeigte sich am Montag bei den ORF-„Sommergesprächen“ verärgert. In vielen Bereichen würde es „krachen“. Aber „vom Bundeskanzler abwärts“ werde diskutiert, wer normal oder nicht normal ist. Die Politik solle Menschen nicht mit „Scheindebatten pflanzen“ und „Schattenboxen“ veranstalten, sagte die Oppositionspolitikerin.

Weniger angriffig, aber inhaltlich ähnlich äußert sich der Präsident der Akademie der Wissenschaften (ÖAW), Heinz Faßmann. Die Debatte über das Bargeld in der Verfassung bezeichnete er gegenüber ORF.at als „zu flach“, um da inhaltlich was herauszuholen. Er ist sich „ganz sicher“, dass hinter den Sommerlochthemen „strategische Überlegungen“ der Parteien stehen („Wie adressiert man seine Wähler und Wählerinnen? Welche Klientel will man ansprechen?“). Das sei legitim, sagt Faßmann. Aber: „Wir hätten wichtigere Themen zu diskutieren.“

Der ÖAW-Präsident, der angesichts der weiterhin hohen Inflationsrate zusätzliche Finanzmittel für den Forschungsbereich gefordert hatte, spricht von „Zukunftsthemen“, mit denen man sich stärker befassen sollte: Wie kann man die Klimakrise, die Energietransformation und den demografischen Wandel bewältigen? Welchen Nutzen könne man aus der künstlichen Intelligenz und der neuen Gentechnologie ziehen?

Wegen seiner früheren Rolle als Minister würde er manche politischen Mechanismen vielleicht besser verstehen als andere. „Ich weiß, warum manche Themen platziert werden“, sagt Faßmann. „Aber genau aus dem Grund erlaube ich mir auch zu sagen, wir könnten andere Themen, auch aus der Forschung, platzieren, die für dieses Land wirklich wichtig sind.“ Auch in den aktuellen Debatten rund um Bargeld, Gendern und „Normalität“ dürfe eine „sachbezogene Politik“ nicht untergehen.

Bargelddebatte in der ÖVP

Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) will Bargeld als Zahlungsmittel in der Verfassung verankern. Kritik kommt von einigen Kollegen aus den Bundesländern, wie etwa dem steirischen Landeshauptmann Christopher Drexler (ÖVP).

Erinnerungen an „bessere Zeiten“

Hinter den aktuellen Debatten steckt auch ein Stück Nostalgie. Wenn bisherige Normen und Strukturen in die Krise geraten, wünschen sich nicht wenige Menschen „bessere Zeiten“ zurück. Gerade der Begriff der „Normalität“ habe einen „nostalgischen Wert“, meinte jüngst die deutsche Politikwissenschaftlerin Astrid Seville zu ORF.at. Wenn eine Krise nach der anderen die Gesellschaft an ihre Grenzen bringt und am bewährten Alltag rüttelt, könne der Verweis auf die Normalität für viele Menschen ein Rettungsanker sein.

Junge in einem Feld im Sonnenuntergang
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Nostalgische Erinnerungen sind ein gängiges Mittel in der Politik, ganz nach dem Motto „Früher war alles besser“

Freilich setzt die nationale und internationale Politik schon lange auf Nostalgie. Politikberater Hofer verweist auf den US-Wahlkampf 2016. Donald Trumps „Make America Great Again“ sei ein Paradebeispiel für eine Politik, mit der die Vergangenheit idealisiert wird. „Wenn man ständig zu hören bekommt, was in der Gegenwart nicht alles schlecht ist, dann können Politiker und Politikerinnen für sich Kapital rausschlagen, wenn sie an ‚bessere Zeiten‘ erinnern“, so Hofer.

Natürlich könne man nicht so tun, als wäre alles in Ordnung, während viele Menschen wegen diverser Krisen Abstiegsängste haben. Inflation, Klimakrise und der Krieg in Europa seien real. Doch man müsse sich bei Debatten, die emotional aufgeladen sind und werden, darüber bewusst sein, wie politische Mechanismen funktionieren, sagt der Experte.

Die Illusion des moralischen Verfalls

Die Annahme, dass damals alles besser war, ist in der Gesellschaft weit verbreitet. Wie die zwei US-Psychologen Adam Mastroianni (Columbia University) und Daniel Gilbert (Harvard University) in ihrer kürzlich erschienenen Studie festhielten, sind überall auf der Welt Menschen davon überzeugt, dass die Moral abnimmt. Sie analysierten Umfragen aus den Jahren 1949 bis 2019. Egal wann: Menschen berichteten immer, dass die Moral im Sinken begriffen ist. Die Klage über eine Verrohung der Sitten scheint also eine Konstante zu sein.

Doch moralischer Verfall sei bloß eine Illusion, meinen die Forscher und führen Umfrageergebnisse an, in denen Teilnehmende die Moral ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen beurteilen sollten. Über die Jahre hinweg verschlimmerte sich die Einschätzung nicht, sondern blieb relativ stabil. Deshalb könne man einen moralischen Verfall nicht nachweisen. „Dieses intensive Gefühl, dass all diese Gemeinheiten, die wir heute sehen, neu sind – das ist eine Illusion“, zitierte die „Washington Post“ den Psychologen Mastroianni, der auch in seinem Blog über die Studie berichtete.

Die Forscher führen diese Illusion auf zwei psychologische Phänomene zurück: Zum einen würden Menschen negativen Informationen unverhältnismäßig viel Aufmerksamkeit schenken. Zum anderen würden negative Erinnerungen schneller verblassen und ihre emotionale Kraft verlieren als positive. Dieses Zusammenspiel bewirke, dass sich die Vergangenheit besser anfühlt als die Gegenwart.