Israelische Panzer und Militärfahrzeuge auf der israelischen Seite der Grenze zum Gazastreifen
Reuters/Amir Cohen
Israel – Hamas

Die Regeln des Völkerrechts

Mit Entsetzen und Sorge schaut die Welt auf die Lage in Nahost. Nach dem Hamas-Angriff auf Israel reagierte das israelische Militär mit Luftangriffen. Um die Hamas weiter zu schwächen, ordnete Israel auch eine „Totalblockade“ des Gazastreifens an. Gerade diese Maßnahme wird kritisch gesehen, laufe sie ja auf eine kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung hinaus. Auch für eine anstehende Bodenoffensive gibt es Regeln.

Unmittelbar nach dem Großangriff der Hamas hatte Israels Regierung die Versorgung des Gazastreifens gestoppt. Die Lieferung von Strom, Treibstoff, Lebensmitteln, Trinkwasser und anderen Gütern wurde von einem Tag auf den anderen eingestellt. Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, übte scharfe Kritik an den Maßnahmen, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen würden. Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz bezeichnete die Abriegelung als nicht vereinbar mit dem gebotenen Schutz von Zivilisten.

Israel argumentierte die „Totalblockade“, wie sie Verteidigungsminister Joav Galant nannte, mit dem Selbstverteidigungsrecht. „Kein Strom, kein Essen, kein Sprit, alles ist abgeriegelt. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln dementsprechend“, sagte Galant. Energieminister Israel Katz will den Gazastreifen erst versorgen, wenn die Geiseln der Hamas freigelassen werden. „Kein Stromschalter wird umgelegt, kein Wasserhahn geöffnet und kein Treibstofflaster fährt rein, bis die israelischen Geiseln nach Hause zurückgekehrt sind.“

Seit dem Angriff der Hamas am Samstag sind auf beiden Seiten Tausende Menschen gestorben. Zudem wurden etwa 150 Personen durch die Hamas in den Gazastreifen verschleppt. Derzeit laufen intensive Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln.

Kein Krieg im völkerrechtlichen Sinn

Mit der gezielten Tötung von Zivilisten und der Geiselnahme verstößt die Hamas gegen das Völkerrecht. „Terroristen führen per definitionem keine konventionellen Kriege und halten sich nicht an die Gesetze des Krieges“, so die renommierte Journalistin und Historikerin Anne Applebaum im US-Magazin „The Atlantic“. Dass sich die Hamas, die zwar von souveränen Staaten Unterstützung erhält, aber selbst keinen Staat kontrolliert, an internationale Normen und Prinzipien hält, ist ausgeschlossen.

Gemäß Völkerrecht handle es sich um keinen Krieg, wie Völkerrechtler Ralph Janik im Gespräch mit ORF.at sagt. Dennoch spielten Normen und Prinzipien bewaffneter Auseinandersetzungen eine wesentliche Rolle in Nahost. Der Schutz von Zivilisten und Zivilistinnen sei hier das oberste Gebot, sagt er. Was die Abriegelung des Gazastreifens betrifft, stimmt Janik der UNO zu. „Israel kann zwar die Einfuhr bestimmter Güter einschränken, eine Vollblockade ist aber eine kollektive Bestrafung. Diese Maßnahme trifft Zivilisten überproportional.“

Grafik zur Stromversorgung im Gazastreifen
Grafik: APA/ORF; Quelle: OCHA

Israels Regierung hält sich eigenen Angaben nach an das Völkerrecht und begründet die Abriegelung mit „militärischer Notwendigkeit“, damit die Hamas nicht weiter angreifen kann. Kurzfristig könnte etwa der Strom im Gazastreifen abgestellt werden, wenn es dazu militärische Gründe gibt und die Abschaltung verhältnismäßig ist, sagt Janik.

Klar sei aber, dass Spitäler Strom benötigen. „Die Menschenrechte gelten auch für eine Bevölkerung, deren Gebiet von Terroristen kontrolliert wird“, so der Experte. Sollte Israel den Gazastreifen nicht selbst versorgen, müssten zumindest Hilfsgüter – auch über andere Wege – durchgelassen werden.

Völkerrechtlerin Yvonne Karimi-Schmidt von der Universität Graz kennt die Situation in Nahost gut. Seit Jahren beschäftigt sie sich mit dem Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht. „Grundsätzlich soll das humanitäre Völkerrecht in Kriegen und bewaffneten Konflikten die dort lebenden Zivilisten und Kämpfenden schützen und unnötiges Leid verhindern“, sagt Karimi-Schmidt im ORF.at-Gespräch. Und unabhängig von einer Belagerung müsse immer sichergestellt werden, dass Zivilistinnen und Zivilisten die Möglichkeit haben, Grundbedürfnisse zu stillen.

Karimi-Schmidt: Bodenoffensive nicht verboten

Vor der neuen militärischen Auseinandersetzung lebten im Gazastreifen rund 2,3 Millionen Menschen. Die Hamas hatte 2007 gewaltsam die alleinige Macht in dem Gebiet an sich gerissen. Im Anschluss verhängten Israel und Ägypten bereits eine Blockade. Wohl auch wegen einer möglichen Bodenoffensive Israels hatten sich zuletzt die Gespräche über einen Fluchtkorridor für die Zivilbevölkerung des Gazastreifens intensiviert.

Der israelische Völkerrechtsprofessor Juval Schani hatte erst in der „New York Times“ mit Blick auf die Bodenoffensive von einem „ernsten Test“ für Israel gesprochen. Sollten Soldaten und Soldatinnen in den Gazastreifen geschickt werden, stelle sich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des möglichen Kollateralschadens, den eine solche Bodenoffensive mit sich bringen könnte. Schani veröffentlichte mit weiteren Fachleuten aus Israel einen offenen Brief, in dem „alle Parteien“ aufgefordert werden, das Völkerrecht einzuhalten.

Israelische Soldaten in der Nähe des Gazastreifen
APA/AFP/Menahem Kahana
Israel bereitet sich derzeit auf eine Bodenoffensive vor und wartet noch auf die politische Entscheidung

Israel habe „selbstverständlich“ das Recht auf Selbstverteidigung, und daher verbiete das Völkerrecht eine Bodenoffensive im aktuellen Fall nicht, sagt Karimi-Schmidt. Vom Gazastreifen aus finden bewaffnete Angriffe auf Israel statt und Geiseln wurden dorthin verschleppt. Die Evakuierung des Gazastreifens sei keine zwingende Vorbedingung für eine „legale Bodenoffensive, sofern es die Möglichkeit gibt, sich in Sicherheit zu bringen“.

Völkerrechtliche Einschränkungen gibt es allerdings. So dürfe Israels Armee zum Beispiel Hilfskonvois, die die palästinensische Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen, nicht angreifen, betont die Völkerrechtlerin gegenüber ORF.at. „Beim Transport von Treibstoff, der zur Versorgung der militanten Hamas dient, muss allerdings eine gesonderte Bewertung getroffen werden.“ Janik ergänzt, dass Israel gegen Bedrohungen, die von der Hamas ausgehen, natürlich vorgehen könne. Es gehe um die Sicherheit der Bevölkerung, sagt er. Auf zivile Leben müsse aber Rücksicht genommen werden.

Der Gazastreifen

Jahrhundertelang stand der Küstenstreifen unter osmanischer Herrschaft. Im Ersten Weltkrieg übernahm Großbritannien die Kontrolle, Ägypten sicherte sich den Streifen im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948. Israel eroberte das Küstengebiet im Sechstagekrieg 1967 und zog sich 2005 daraus zurück. Seitdem kontrolliert Israel die Außengrenzen. Die Hamas gewann 2006 die Wahl und sieht sich seither als legitime Regierungsmacht.

Eine Frage der Verhältnismäßigkeit

Janik verweist zudem darauf, dass ein Verstoß gegen das Völkerrecht Debatten auslösen könnte, die sich unter anderem auf militärische Hilfen auswirken könnten. „Völkerrecht ist auch eine Richtschnur für politische Entscheidungen“, sagt Janik unter Verweis etwa auf die USA. Dort hatte US-Präsident Joe Biden Israel bereits aufgefordert, nach den „Regeln des Krieges“ zu handeln. Es sei wirklich wichtig, dass Israel trotz all des Ärgers und des Frusts nach den Regeln des Krieges handle, so Biden. „Und es gibt Regeln des Krieges“, fügte er hinzu.

Theorie ist das eine, Praxis das andere, wie Karimi-Schmidt anmerkt. Denn Israels Armee stehe vor einer „riskanten Herausforderung“, da der militante Flügel der Hamas so eng mit der zivilen Verwaltung in Gaza verwoben sei. Obwohl nur die Bekämpfung von Kombattanten und militärischen Zielen erlaubt sei, könnten auch zivile Ziele sowie Zivilisten und Zivilistinnen zu Schaden kommen. „Es geht vor allem um die Verhältnismäßigkeit“, sagt die Expertin.

Deshalb müsse das israelische Militär jedes Mal überlegen, wie es ziviles Leben schont, selbst wenn die Hamas Raketenwerfer auf Wohnhäuser stellt und sie als Schutzschild verwendet. „Liegen belastbare Beweise vor, dass eine Konfliktpartei zivile Orte militärisch nutzt, dann können sie zu legitimen Zielen werden“, sagt die Völkerrechtlerin. Oft warne Israel Zivilisten wenige Minuten vorab, sollten ihre Häuser Angriffsziele werden. „Auf diese Weise versucht das israelische Militär, diese Verpflichtung des Völkerrechts zu erfüllen.“