Palästinensische Flüchtlinge
AP/Fatima Shbair
Nahost-Konflikt

Die ungewollten Flüchtlinge

Im Zuge der Kämpfe zwischen Israel und der Hamas sind erneut palästinensische Flüchtlinge im Fokus. Die arabischen Länder der Region, allen voran Ägypten und Jordanien, weigern sich, Menschen aus dem Gazastreifen aufzunehmen – wohl auch aus Angst, Unruhen oder den Terror der Hamas so ins eigene Land zu bringen. Die Länder haben, bei allem Willen zu helfen, zudem bereits mit zahlreichen Problemen zu kämpfen.

Jordanien ist mit Ägypten seit Jahrzehnten ein wichtiger Vermittler im Nahost-Konflikt, doch auch in diesen beiden Ländern ist die Stimmung gegenüber Flüchtlingen trotz aller aktueller Hilfeleistungen und Vermittlungen spürbar umgeschlagen. Bei seinem Besuch in Berlin diese Woche sprach sich Jordaniens König Abdullah sehr deutlich dagegen aus, dass Ägypten oder Jordanien weitere palästinensische Flüchtlinge aufnehmen. Das sei eine „rote Linie“.

Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi warnte bei seinem Gespräch mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz ebenfalls energisch vor Plänen, die Palästinenser und Palästinenserinnen aus dem Gazastreifen nach Ägypten zu bringen. „Ägypten lehnt es ab, dass die palästinensische Frage nur militärisch gelöst wird oder es zu einem Massenexodus kommt“, sagte er. Er warnte vor Demonstrationen und Unruhen im eigenen Land. Scholz sagte im Rahmen der Treffen, dass Hilfe für die Palästinenser im Gazastreifen selbst geleistet werden müsse.

Sisi pocht auf politische Lösung

Sisi sprach sich für eine politische Lösung aus: „Die Palästinenser haben das Recht darauf, ihr unabhängiges Land zu gründen, in den Grenzen von 1967 und mit Ostjerusalem als Hauptstadt.“ Er verwies darauf, dass der Sinai zur Basis von Angriffen der Hamas gegen Israel werden könnte, was eine direkte militärische Auseinandersetzung zwischen Ägypten und Israel nach sich ziehen könnte. Ägypten kämpft seit Längerem gegen islamistische Extremisten auf der Sinai-Halbinsel.

Hintergrund der Ablehnung sind von Sisi ausgesprochene Befürchtungen, dass Israel mit der Evakuierungsaufforderung für den Norden Gazas die Menschen in den Süden des Gebietes und noch weiter abdrängen will – in dem Fall nach Ägypten. Sisi fürchtet, bei allem wohl auch vorhandenen Willen zu helfen, offenbar weiters, dass eine Flucht der Palästinenser deren Anspruch auf das Gebiet minimieren könnte.

Bereits Millionen palästinensische Flüchtlinge

Schon jetzt leben etwa in Jordanien und auch im Libanon Millionen palästinensische Flüchtlinge. Laut Zahlen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR und des UNO-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) leben in Jordanien 2,4 Millionen von UNRWA registrierte palästinensische Flüchtlinge. Im Libanon sind 490.000 registriert, weitere 580.000 in Syrien. In Gaza selbst sind laut Schätzungen rund eine Million Menschen auf der Flucht bzw. wurden vertrieben, die Hälfte lebt in Einrichtungen des UNRWA.

Die Registrierung beim UNRWA ist allerdings nicht verpflichtend, wie es auf Anfrage von ORF.at hieß. Geburten, Todesfälle und etwaige Migration in ein anderes Land würden oft auch ungemeldet bleiben. Der Libanon zählte demnach in einer eigenen Zählung 2017 174.000 Palästinenser in dem Land, fast die Hälfte lebte in einem der zwölf Flüchtlingscamps. Das UNRWA selbst geht davon aus, dass derzeit rund 250.000 palästinensische Flüchtlinge im Libanon leben.

Laut UNHCR ist im Libanon das Verhältnis Flüchtlinge zu Staatsbürgern derzeit eins zu acht, schon ohne die palästinensischen Flüchtlinge, die bereits in dem Land sind. Der Libanon liegt damit laut UNHCR auf Platz zwei weltweit. Die tatsächliche Zahl an Flüchtlingen, die eben auch nicht registriert sind, könnte noch höher sein. Der Libanon nahm im vergangenen Jahrzehnt rund 1,5 Millionen Menschen aus Syrien auf, die die Infrastruktur, die Wirtschaft und das Sozialsystem des Landes stark belasten.

Libanon verschärft Gangart gegenüber Flüchtlingen

Zuletzt verschärfte die libanesische Regierung laut Hilfsorganisationen die Gangart gegen syrische Flüchtlinge, etwa mit vermehrten Abschiebungen. Der Libanon erlebt derzeit eine massive Wirtschaftskrise, viele Menschen in dem kleinen Land am Mittelmeer leben in Not. Die Krise wird unter anderem auf jahrzehntelange Korruption zurückgeführt. Einige Politiker machen Flüchtlinge aus dem benachbarten Syrien für die Lage verantwortlich.

Nahost-Experte zur Lage in Israel

Der nach dem Terrorangriff der palästinensischen Hamas auf Israel neu entfachte Krieg weitet sich auf weitere Grenzgebiete aus. Nahost-Experte Marcus Schneider von der Friedrich-Ebert-Stiftung ist aus Beirut zugeschaltet und gibt eine aktuelle Einschätzung der Lage.

Dazu kommt im Libanon die proiranische Hisbollah-Miliz, die sich bereits mit dem israelischen Militär an der Grenze zuletzt laufend Gefechte liefert. Zudem schießt die Miliz immer wieder Raketen nach Israel ab. Die Hisbollah habe bereits erklärt, eine weitere Front für Israel zu eröffnen, sobald Israel im Gazastreifen eine Bodenoffensive gegen die Hamas starte, sagte Nahost-Experte Marcus Schneider von der Friedrich-Ebert-Stiftung im ZIB2-Interview.

Zwar sei die Miliz durch den Syrien-Krieg geschwächt, fühle sich aber vielleicht politisch-strategisch doch genötigt, bei einer Schwächung der Hamas in den Konflikt einzusteigen, so Schneider. Grundsätzlich sei die Angst vor einer Eskalation bzw. Destabilisierung in der Region groß, gebe es doch neben den Annäherungen zwischen Israel und den arabischen Staaten auch viel Solidarität der jeweiligen Bevölkerungen mit den Palästinensern.

Das erkläre auch die Demonstrationen der vergangenen Tage mit Hunderttausenden Teilnehmern, sagte der Nahost-Experte. Die Sicht auf Israel sei in der Region selbst auch anders, es werde als eine Art Kolonialstaat betrachtet, und was in Gaza geschehe als eine Art „Kollektivbestrafung“ für Menschen, die bereits arm und elend leben würden. Deutschland rief Donnerstagabend seine Bürger und Bürgerinnen auf, den Libanon zu verlassen. Das Außenministerium erließ am Freitag eine Reisewarnung für den Libanon und forderte Österreicher und Österreicherinnen auf, das Land zu verlassen.

Palästinenser weit verstreut

Das Thema Flucht und Vertreibung ist seit Jahrzehnten auch bei den Palästinensern im kollektiven Gedächtnis und mit der eigenen Identität verbunden. Zuletzt zählte UNRWA insgesamt 5,9 Mio. registrierte palästinensische Flüchtlinge bzw. Vertriebene, eben in Jordanien, Syrien, dem Libanon, aber auch in Gaza und im Westjordanland. Viele sind noch weiter geflohen, in Richtung Westen oder andere arabische Staaten.

Spätestens seit der ersten kriegerischen Auseinandersetzung im Rahmen der Teilung Palästinas und der Gründung des Staates Israel sind immer wieder Hunderttausende Palästinenser auf der Flucht, teilweise auch schon davor. 1948 flohen mehr als 700.000 palästinensische Araber, viele Hunderttausende sollten folgen. Israel lehnte damals eine Rückkehr der arabischen Flüchtlinge ab, in den arabischen Ländern leben die geflüchteten Palästinenser teilweise bis heute als Staatenlose in Flüchtlingslagern.

Krieg könnte Jahre dauern

Ägypten hat wohl auch Angst, dass sich die Geschichte wiederholt und die Flüchtlinge nicht nach einem Ende des Konflikts nach Gaza zurückkönnen. Das Land beherbergt selber eine hohe Zahl an Flüchtlingen und Migranten, allein heuer kamen Hunderttausende aus dem Sudan.

Jordanien kämpft mit Spannungen im eigenen Land, die auch von zahlreichen in den vergangenen Jahrzehnten integrierten Palästinensern ausgehen. Der jordanische König, schreibt Gudrun Harrer im „Standard“, müsse um seine Vormacht im eigenen Land fürchten.

Zudem ist derzeit völlig offen, wie der Konflikt ausgehen könnte. Israel will laut eigenen Angaben die Infrastruktur der Terrororganisation Hamas in Gaza komplett zerstören – was dann folgen soll oder könnte, ist unklar. Zuletzt hieß es, dass jene Palästinenser, die dem Aufruf Israels, den Norden Gazas Richtung Süden zu verlassen, folgen, später zurückkehren könnten.

Die Frage ist, wie weit das möglich sein wird. Die Zerstörungen sind schon jetzt massiv, da die Hamas ihre Infrastruktur strategisch so platziert hat, dass auch Zivilisten und Zivilistinnen unter den Zerstörungen leiden. Offen ist auch, wann das sein könnte. Sisi schlug vor, dass Israel ja die Flüchtlinge vorerst in der Negevwüste auf eigenem Staatsgebiet unterbringen könnte.