Gruppe von Menschen bewegt sich nach rechts
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Wahlen und Co.

„Brodelnde Mitte“ geht nach rechts

Europa rückt nach rechts. Giorgia Meloni regiert in Italien, in den Niederlanden steht Geert Wilders kurz davor. In Deutschland erfährt die AfD an Zuspruch, hierzulande könnte die FPÖ die Nationalratswahl für sich entscheiden. Der rechte Aufstieg wird mit den vergangenen und aktuellen Krisen erklärt – doch in der Mitte „brodelt“ es schon lange.

Im Dezember hatte AfD-Kandidat Tim Lochner die Wahl zum Bürgermeister im sächsischen Pirna für sich entschieden. Damit stellt die AfD erstmals einen Stadtbürgermeister. Es ist das jüngste Beispiel einer Erfolgsgeschichte der extremen Rechten (kürzlich stufte der sächsische Verfassungsschutz die AfD-Landesgruppe als gesichert rechtsextremistisch ein). Der Wahlsieg in Pirna wird allerdings nicht der letzte der AfD sein. Im Osten Deutschlands stehen im Herbst drei Landtagswahlen an, dort führt die Partei in den Umfragen.

Man muss freilich nicht gleich zum Nachbarn schauen, wenn man einen Rechtsruck erkennen will. Seit Monaten treibt die FPÖ die restlichen Parteien vor sich her. In den Umfragen liegen die Freiheitlichen deutlich in Front. Noch vor wenigen Jahren war daran gar nicht zu denken. Nach der „Ibiza“-Affäre fuhr die Partei bei der Neuwahl 2019 ein sattes Minus ein. Doch die Freiheitlichen erholten sich schnell, nach Angaben von Fachleuten profitierten sie von den Krisen – von der Coronavirus-Pandemie, der hohen Inflation und selbst von der Klimakrise.

Rechts zur Mitte oder Mitte nach rechts?

In den vergangenen Wochen haben mehrere Medien über einen Rechtsruck in Europa berichtet. Auch in den USA, wo der kommende Präsident wieder Donald Trump heißen könnte, wurde die politische Entwicklung analysiert. Die „Washington Post“ kommentierte jüngst, dass rechte Parteien in Europa schon längst zum Mainstream gehörten.

Entweder sei die radikale Rechte näher zur Mitte oder die Mitte – besonders bei ideologisch brisanten Themen – nach rechts gerückt. Ähnlich lautete das Fazit in einem Gastkommentar der „New York Times“: Mitte-rechts-Parteien und die radikale Rechte werden einander immer ähnlicher.

Italienische Premierministerin Giorgia Meloni
Reuters/Guglielmo Mangiapane
Meloni regiert mit ihrer Rechtsaußen-Partei Italien

Der renommierte Politikwissenschaftler von der Princeton University, Jan-Werner Müller, sagte dem „Spiegel“, dass sich Wählerinnen und Wähler an den Rechtspopulismus gewöhnt hätten und Parteien in der rechten Mitte das Verhalten der Rechtspopulisten kopierten. „Das hat wohl auch damit zu tun, dass Mitte-rechts-Parteien programmatisch erschöpft und sich ihrer Unterschiede zu Rechtsaußen nicht mehr sicher sind“, sagt Müller. So finde zum Beispiel in den Debatten über Migration eine „Art Mainstreaming von Rechtsaußen-Positionen“ statt.

Dem stimmt Politikwissenschaftler Markus Wagner von der Universität Wien zu. „Wenn radikale Parteien in Parlamenten und Landtagen sitzen, werden ihre Positionen legitimiert“, sagt der Experte im ORF.at-Gespräch. In einer Studie habe man herausgefunden, dass Wähler und Wählerinnen radikale Parteien stärker akzeptieren, wenn Parteien die Bereitschaft signalisieren, mit ihnen zusammenzuarbeiten. „Die Legitimierung radikaler Parteien wird stark von anderen Parteien betrieben“, sagt Wagner. Theoretisch sei es auch für radikal Linke möglich, aktuell betreffe es aber radikal Rechte.

„Todeskuss“ für Macron

Dass sich der Diskurs verschiebt, zeigte sich zuletzt in Frankreich, wo ein umstrittenes Einwanderungsgesetz verabschiedet wurde. Dieses konnte nur deshalb das Parlament passieren, weil die rechtsnationale Partei Rassemblement National dafür stimmte. Präsident Emmanuel Macron wurde vorgeworfen, sich der Partei von Marine Le Pen anzunähern. Von einem „Todeskuss“ war in Medien die Rede. Macron entgegnete den Kritikern und Kritikerinnen, dass man „Probleme“ angehen müsse, damit Le Pen nicht noch stärker werde. In Umfragen führt ihre Partei.

Marine Le Pen
Reuters/Sarah Meyssonnier
Le Pen hat den Diskurs in Frankreich nach rechts verschoben

Seit zwei Jahren erforscht Politikwissenschaftlerin Birgit Sauer mit 30 internationalen Kollegen und Kolleginnen die Normalisierung radikal Rechter. Angesiedelt ist das Forschungsprojekt am Zentrum für interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld. Auch die Uni-Wien-Forscherin sagt, dass Populisten von Krisen und Verunsicherungen, die Mainstream-Parteien nicht lösen können oder wollen, profitierten.

Aber es sei auch so, dass die Mitte-Parteien politisch und gesellschaftlich nach rechts tendieren. Die Entwicklung sei nicht neu und finde gesellschaftliche Resonanz. „In der Mitte brodelt es schon lang, jetzt bricht es langsam aus“, sagt die Forscherin im Gespräch mit ORF.at.

Das ist insofern überraschend, als vor wenigen Jahren noch von einer „grünen Welle“ die Rede war. Klimaschutz stand damals ganz oben auf der Agenda, die Grünen konnten bei der EU-Wahl und bei nationalen Wahlen reüssieren. Eine Pandemie, ein Krieg sowie eine Energie- und Lebenskostenkrise später sieht die politische Landschaft anders aus. Sogar beim Klimaschutz sind die Fronten verhärtet – bedingt durch die umstrittenen Protestformen von Klimaaktivistinnen und -aktivisten.

Die „grüne Welle“ färbte sich allmählich blau. Bei der Europawahl 2024 werden Fachleuten zufolge EU-kritische Parteien, die einen strikteren Asylkurs fordern, deutlich zulegen. Allein in Österreich würde die FPÖ laut jüngster Umfrage ihre Stimmen verdoppeln. „Die Wählerinnen und Wähler suchen Halt und wenden sich extremeren Positionen zu“, sagt Sauer. Dadurch werden diese Positionen ein Stück weit normalisiert.

Herbert Kickl
ORF/Roland Winkler
Herbert Kickl liegt mit seiner FPÖ in allen Umfragen vor den anderen Parteien

Tusk als Ausreißer

Halt in Form von Sicherheit, das verspricht auch die Partei von Italiens Regierungschefin Meloni. Wie der „Guardian“ kürzlich berichtete, will ihre Rechtsaußen-Partei Fratelli d’Italia „kulturelle Wurzeln“ des Landes beschützen, indem man Weihnachtskrippen in den Schulen gesetzlich verankert. Weihnachten dürfe nicht zu einem Winterfest werden, heißt es aus der Partei. Ähnliche Töne sind auch von anderen Parteien des rechten Spektrums zu hören.

Politische Meinungen von Wählern und Wählerinnen seien „formbar“, sagt Politikwissenschaftler Wagner. „Es ist entscheidend, wer was sagt und wie der Diskurs generell ist. Die Meinungen sind nicht so fix, wie man annimmt“, betont er.

Sauer verweist auf die Debatten über Asyl und Migration: „Was heute in diesen politischen Bereichen als sagbar wahrgenommen wird, galt vor Jahren noch als tabu. Aber das Brechen von Tabus gehört zu den Mechanismen von Rechtspopulisten und auch radikaler Rechter.“

Geert Wilders
Reuters/Piroschka Van De Wouw
In den Niederlanden steht Geert Wilders kurz davor, das Land zu regieren

Allerdings gibt es auch Ausnahmen vom Trend. In Polen hatte etwa ein breites Bündnis der Opposition die Parlamentswahl gewonnen. Die als illiberal geltende PiS-Regierung musste Donald Tusk weichen. Auch in Spanien verlor die Rechtsaußen-Partei Vox bei der letzten Wahl deutlich an Stimmen. „In Polen hat es Tusk geschafft, sich deutlich von der PiS zu distanzieren“, betont Sauer und verweist auf die proeuropäische Agenda von Tusk. Die „falsche Strategie“ sei, die Agenda der radikal rechten Parteien nachzuahmen.