Es war eigentlich das 101. Jahr, in dem man in Salzburg den runden 100er gefeiert hat. Letztes Jahr war es ein Aufbäumen gegen die Pandemie. Heuer gelang, was sich ein Festival wie Salzburg nur wünschen kann: zu zeigen, warum Kunst einen zentralen Platz in der Gesellschaft hat und haben muss. Der „Don Giovanni“ wie vor allem die Inszenierung von „Intolleranza 1960“ markieren einen geradezu historischen Festspielsommer. Wenn Salzburg in diesem Jahr eines gezeigt hat, dann, dass das unmittelbare Erlebnis von Kunst am Ende nicht durch die digitale Welt ersetzbar ist. Und auch jene in den Bann zu ziehen vermag, die sich sonst von Kunstorten fernhalten.

Die Paarung Romeo Castellucci und Teodor Currentzis wurde zum singulären Salzburg-Ereignis. Tatsächlich gelang es Currentzis auch in Salzburg, einen neuen Blick auf den „Don Giovanni“ zu werfen – was sicher nicht allen gefallen haben kann (und auch nicht gefallen muss). Castellucci wiederum passierte etwas sehr Männliches – und damit vielleicht die ungewollte Mimikri auf das Thema dieses Klassikers: Er wollte alles, was sein Schaffen bisher ausgemacht hat, in diese Inszenierung stecken. Das wurde zu einem Schauspiel der Opulenz, das die Paarungen dieser Oper aber zudeckte und fast austauschbar machte.
Langfassung: Festspielpräsidentin zieht Bilanz
Seit 1995 leitete Helga Rabl-Stadler als Präsidentin die Salzburger Festspiele. Die diesjährigen Festspiele waren ihre letzten. Im „ZIB 2“-Interview zieht sie Bilanz und spricht über ihre Nachfolge sowie ihre Zukunft.
Dieser „Don Giovanni“ war einzigartig – und vielleicht liegt ja auch die Erkenntnis gerade dieses Sommers im Umstand verborgen, dass man im digitalen Zeitalter die singulären Ereignisse zu suchen hat – und eben nicht auf die Replay-Taste drücken kann. Endlich wieder im echten Leben zu stehen und realiter zu erleben – das war wohl das in Salzburg am häufigsten formulierte Gefühl.
Fünf Highlights
Fünf Highlights fallen beim Rückblick auf die Salzburger Festspiele in diesem Jahr auf. Drei auf dem Theater, zwei im Bereich der Oper. Alle eint, dass sie die Wirkung der Produktionen weit über den Kreis der klassisch Kunstinteressierten hinausgetragen haben:
Das große Highlight kam zum Schluss
Dass Kunst vielleicht nicht das Brot, sehr wohl aber das Salz der Gesellschaft ist, machte ausgerechnet die schwierigste Produktion dieses Festivals deutlich. „Intolleranza 1960“ von Luigi Nono in der Inszenierung von Jan Lauwers und in der fantastischen musikalischen Umsetzung durch Ingo Metzmacher war das Ereignis, wie es sich Nono vorgestellt hätte. Man brauchte kein Experte sein, um sich der Elementarkraft der Musik Nonos stellen zu können und zu spüren, dass hier, gerade im Schatten der Entwicklungen dieses Sommers, alles verhandelt wurde, was den Kampf des Menschen um Leben und Überleben ausmacht.
Drei starke Rufzeichen beim Theater
Beim Theater wurde gleich zu Beginn deutlich, dass einiges anders laufen würde in diesem Jahr. Beim „Jedermann“ strahlte das Paar Lars Eidinger und Verena Altenberger weit in den popkulturellen Bereich hinein. Das machte zwar aus Hofmannsthals „Jedermann“ kein besseres Stück, brachte aber ein Interesse für Theater in Kreisen, die man in Salzburg dringend sucht: bei den Jüngeren – und jenen, die nicht über große Schwellen in die Kultur eintreten wollen. Eidinger als „Jedermann“, vor allem in der Indoor-Version im Festspielhaus, war für sich ein Ereignis: Dieser Jedermann war kein Draufgänger, sondern von Anfang an ein Zweifler an der Welt. In gewisser Weise macht Eidinger mit seinem Zugang, auf den ja die ganze Inszenierung abgestellt war, das Stück moderner als die Vorlage. Der Jedermann ist bei Eidinger nicht mehr nur Typus, sondern Repräsentant für das zweifelnde Ich, das Hofmannsthal ja in vielen anderen Texten in die Welt gesetzt hatte.

Im Bereich Theater kam dann gleich am Eröffnungstag und nach dem Festakt ein weiteres Rufzeichen. „Richard the Kid and the King“ mit einer großartigen Lina Beckmann als Richard wurde zum Fingerzeig, wie auch das Gegenwartstheater weit über den Kreis der Eingeweihten wirken kann. Und wie der Blick auf die Tradition vom Geist eines intelligenten Re-Mixes getragen sein kann. Auch Martin Kusejs „Maria Stuart“, lange im Vorfeld ausverkauft (und im Herbst auch in Wien zu sehen), kombinierte einen Klassiker intelligent mit der Ästhetik von „Game of Thrones“ und strahlte damit ebenso weit und auf klugem Niveau in den popkulturellen Bereich hinein.
Übersättigt von Hofmannsthal
Ein Unterfangen, mit dem man sich zwar germanistische Meriten verdienen kann, aber einfach am Original scheitern muss, war der Versuch, das unspielbare Märchendrama zur Moderne, Hofmannsthals „Bergwerk zu Falun“, auf die Bühne zu bringen. Manche Dramen eignen sich einfach besser für eine Proseminararbeit als für eine Bühnenausdeutung. Überhaupt darf Salzburg in Zukunft vielleicht wieder ein bisschen weniger auf die Hofmannsthal-Überdeutung setzen. Hofmannsthal hat seine Meriten um die Etablierung dieses Festivals als geistiger Vater und Mentor. Allerdings wäre Salzburg ohne Max Reinhardt nicht das geworden, was es heute ist – und auch wenn man die beiden nicht gegeneinander ausspielen muss, so hatte doch Reinhardt die Hand am Puls der Zeit, während sich Hofmannsthal in den 1920er Jahren langsam von der Gegenwart abzuwenden begann.

Dass wir heute das Paar Jedermann – Buhlschaft nach wie vor als großes Medienereignis deuten, ist das Verdienst Reinhardts – vom Text ist dieser Hype nicht gedeckt, wohl aber von der einstigen Absicht, den „Jedermann“ Marke Salzburg auch am Broadway zu etablieren. Ein bisschen mehr Geist Hofmannsthals und weniger Ausleuchtung jedes Textwinkels seines Werks, das täte Salzburg gut. Hofmannsthal stand zwischen den Zeiten und kulturellen Identitäten, das macht ihn als Figur interessant. Bei den Texten darf man bewusst auswählen zwischen Markantem – und das Epigonale hinter sich lassen. Den „Jedermann“ wird man ohnedies als Trademark beibehalten. Auch wenn eine moderne Inszenierung, die mehr bei Brian Mertes und Julian Crouch ansetzt als bei Michael Sturminger, sorry to say, hoch an der Zeit ist.

Rampe für die Stars von morgen
Salzburg hat sich im Feld der auftretenden Künstlerinnen und Künstler, besonders im musikalischen Bereich, stark verjüngt und ist zur Rampe für die Stars von morgen geworden. Hier beweist sich der Mut des Intendanten Markus Hinterhäuser ebenso wie bei der Programmierung der Oper. Hinterhäuser gelingt es wie wenigen, die Moderne schmackhaft und erlebbar zu machen. Diesen Weg muss Salzburg weitergehen – und den Hebel finden, noch mehr junges Publikum an das Festival zu binden. Eidinger und Altenberger waren dabei ein wichtiges Signal. Aber es wird noch Schritte und Signale für eine weitere Öffnung des Festivals brauchen.

Keine Zeit für Abschied
Am letzten Festspielabend dieses Jahres sandte die Präsidentin jedenfalls ein deutliches Zeichen aus, dass ihr nicht so sehr nach Abschiedsinterviews wäre, sondern zum Weiterarbeiten bis zu ihrem letzten Arbeitstag im Winter 2021. Jetzt, so sagte sie bei einem Überraschungsfest am Dienstagabend nach der letzten „Tosca“, gelte es, noch jene Mittel zu sammeln, „damit Markus Hinterhäuser möglichst viele seiner künstlerischen Projekte verwirklichen kann“. Und dafür brauche es einen Polster, für den sie in den verbleibenden Monaten ihrer Amtszeit sorgen wolle.