*** Local Caption *** Martin Eden, Pietro Marcello, I/F/D 2019, V’19, Features
© Viennale
Bilanz

Rückschau auf eine bunte Viennale

Die Viennale im Jahr II unter Eva Sangiorgi ist als echtes Festival für den Film vonstatten gegangen: skandalfrei, ohne große Promiaufmärsche, mit guten Partys und vor allem Hunderten Filmen, über die sich trefflich diskutieren ließ.

Der Eröffnungs- und der Abschlussfilm rahmten das Programm mit viel Gefühl, im Mittelteil gab es Filme, die auch im regulären Kinobetrieb reüssieren werden und zwischendrin das, was die Viennale seit jeher eigentlich ausmacht: Endteckungen, auf die man so nie gekommen wäre, quer durch die Genres und rund um den Globus. ORF.at, die Kultursendungen des ORF TV, Ö1 und FM4 haben sich ins Gewühl geworfen.

Romantische Pionierinnen

Celine Sciammas „Portrait de la jeune fille en feu“ (Dt.: „Porträt einer jungen Frau in Flammen“) über eine Porträtmalerin im ausgehenden 18. Jahrhundert, die sich in ihr schönes Modell verliebt, ist von berückender Kraft – und riss als Eröffnungsfilm der Viennale programmatische Grenzen nieder. Mitte Dezember kommt der Film österreichweit in die Kinos. Einen angemesseneren Eröffnungsfilm hätte Viennale-Chefin Sangiorgi kaum finden können.

Mehr dazu in Die fehlenden Bilder ergänzen

Richard Burton
Slovenska kinoteka
Partisanenschwerpunkt: Tito ließ sich von Richard Burton spielen

Propaganda und Gerechtigkeit

Dem Partisanenfilm widmete die Viennale heuer gemeinsam mit dem Filmmuseum eine Retrospektive unter dem Namen „O partigiano!“. Der Schwerpunkt beleuchtete das Schaffen sozialistischer Filmindustrien zwischen Agitprop und Revolutionsromantik. Verdienstvoll und gelungen: Die Möglichkeit, Partisanenfilme in guter Qualität auf einer Kinoleinwand zu sehen, ist selten – die Viennale war eines der ersten Festivals, das dem Genre eine eigene Retrospektive widmete.

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Österreichs vergessene Filmpionierin

Die ersten österreichischen Spielfilme stammen von einer Frau. Ab 1910 wirkte Louise Kolm-Fleck als Drehbuchautorin, Produzentin und Regisseurin an über 150 Produktionen mit. Auch wenn sie damals hinter den offiziellen Credits ihrer männlichen Kollegen zurückstand: Sie war die erste Spielfilmregisseurin Österreichs und die zweite weltweit. Die Viennale und das Filmarchiv widmeten der Pionierin eine überaus gelungene, sehenswerte, überfällige Programmschiene.

Mehr dazu in Filmarchiv gräbt Schätze aus

Ohne Tabus durch die Nacht

Zwei Highschool-Streberinnen, die in einer Nacht nachholen wollen, was sie während ihrer ganzen Schulzeit verpasst haben – was nach einer abgedroschenen Teeniekomödie klingt, ist eine originelle weibliche Coming-of-Age-Geschichte und einer der lustigsten Filme des Jahres. Bei der Viennale durfte schon gelacht werden, in die österreichischen Kinos kommt „Booksmart“ Mitte November. „Booksmart“ überzeugt, weil er die Komplexität einer Frauenfreundschaft auf den Punkt bringt und einen durch sein Feuerwerk an intelligenten Gags zum laut Lachen bringt.

Mehr dazu in Partylust statt Lernfrust

Wenn das Grauen Blüten treibt

Jessica Hausners surrealer Psychothriller „Little Joe“ handelt von einer toxischen Blume, die glücklich machen soll. Messerscharf seziert die österreichische Regisseurin in ihrem ersten englischsprachigen Film die Sehnsüchte der Menschen und bringt futuristischen Horror in wunderschönen Bildern auf die Leinwand. Das Gartenbaukino bot den passenden Rahmen.

Mehr dazu in Das Glück ist ein Blumerl

Auf Hundeaugenhöhe durch Moskau

Die unfreiwillige sowjetische Weltraumpionierin Laika war ursprünglich Moskauer Straßenköter. Diese Geschichte klingt erfunden, ist aber wahr – und funktioniert in „Space Dogs“ als roter Faden durch einen preisgekrönten Film, der vom Dasein eines russischen Hunderudels handelt. Die Viennale ist ja kein Festival, wo Preise im Vordergrund stehen – aber vergeben werden doch ein paar. Und die zwei wichtigsten, vom Publikum und von einer erlesenen Fachjury, gingen an „Space Dogs“. Zurecht. Der Film kommt nächstes Jahr regulär ins Kino. Eine Empfehlung.

Mehr dazu in Propagandahunde

Widerstand in bergiger Idylle

Franz Jägerstätter, oberösterreichischer Bauer, hat im Zweiten Weltkrieg den Wehrdienst verweigert und ist dafür 1943 vom Regime der Nationalsozialisten hingerichtet worden. Regisseur Terrence Malick macht Jägerstätter zur Hauptfigur in „A Hidden Life“, ein Film über Gut und Böse, Religion und Glauben, der weder bei Bildgewalt noch Pathos spart. Letztlich ist „A Hidden Life“ ein handwerklich eindrucksvoller Film – aber der große Blick auf die verheerenden Ausmaße des Zweiten Weltkriegs fehlt. Ein zwiespältiges Projekt.

Mehr dazu in Der Hass einer Dorfgemeinde

Virtuose Erotik an der Riviera

Zwei schöne junge Männer, eine Yacht und die Cote d’Azur: Für die Cousinen Naima und Sofia ist das Dasein voller Verheißungen. Regisseurin Rebecca Zlotowski gelingt in „Une fille facile“ ein erotischer Sommerfilm, der Erwartungen und Vorurteile virtuos auf den Kopf stellt. Der Film war eines der Viennaleschmankerl, über die bei den Partys am meisten geredet wurde.

Mehr dazu in Ein riskantes Spiel

So schön kann Scheidung sein

Das brillante Scheidungsdrama „Marriage Story“ ist ein Netflix-Film, den die Viennale für die große Leinwand gewinnen konnte. Regisseur Noah Baumbach setzt Scarlett Johansson und Adam Driver als strauchelndes Paar perfekt in Szene und lässt ein gleichzeitig lachendes und weinendes Publikum voller Herzschmerz und Hoffnung zurück. Auch dieser Film war tagelang „talk of the town“.

Mehr dazu in Mitten im Gefühlschaos

Showdown in Brasilien

Die Viennale widmete dem krisengebeutelten Brasilien nicht nur einen formidablen Schwerpunkt quer durch gute 60 Jahre Filmgeschichte, sondern zeigte auch im regulären Programm aktuelle Positionen. So etwa eine Gesellschaftsdystopie, in der marginalisierte Dorfbewohner wie Safari-Jagdwild hingemetzelt werden: „Bacurau“ ist eine drastische Politsatire mit Sonia Braga, Udo Kier und einem blutigen Western-Showdown, der seinesgleichen sucht. Ein großartiger Film.

Mehr dazu in Die Verletzlichen begehren auf

Von Männern gefürchtet, von Frauen geliebt

„Die Dohnal“ – unter diesem fast ehrfürchtigen Titel hat Sabine Derflinger SPÖ-Frauenministerin Johanna Dohnal porträtiert: als Politikerin mit Haltung und Menschen mit Herz. Im Gespräch mit ORF.at erklärte die Regisseurin, warum eine wie Dohnal heute wieder gebraucht würde. Der Film überzeugte das Viennale-Publikum restlos und läuft demnächst auch regulär im Kino an.

Mehr dazu in Ministerin vs. Machos

Satans amerikanischer Traum

Schwarze Messen, verkehrte Kreuze, Black Metal – und soziale Gerechtigkeit: Der Dokumentarfilm „Hail Satan?“ räumt mit satanistischen Klischees auf und ist dabei trotzdem immer ein bisschen Freakshow. Penny Lanes amüsantes Porträt der Anhängerinnen und Anhänger des Satanic Temple stellt aber vor allem einen der Grundpfeiler des amerikanischen Traums infrage: Denn die Freiheit in den USA kennt offenbar doch Grenzen. Auch diesen Film liebte das Publikum.

Mehr dazu in Der Zehn-Gebote-Werbegag

Filmstill aus „Hail Satan?“
Viennale
„Hail Satan?“ Nichts ist heilig? Doch,aber unter umgekehrten (Vor-)Zeichen

Der Viennale-Tiefpunkt

Bei der Viennale versuchten eine Doku und ein Spielfilm, sich der italienischen Mafia-Problematik zu nähern. Bemerkenswert: Realistisch ist nur der Spielfilm, während die Doku eine völlig missglückte, gescriptete Realsatire ist, die mehr über den Filmemacher aussagt als über Italien. In der Doku wird immer wieder ein junger Mann mit Behinderung der Lächerlichkeit preisgegeben – und ein Teil des Kinopublikums lachte tatsächlich, immer wieder. Der Tiefpunkt der diesjährigen Viennale.

Mehr dazu in Das Scheitern an der Mafia

„Amazing Grace“: Zum Weinen schön

„Amazing Grace“: Die Aufnahmen zu Aretha Franklins großer Gospelplatte aus dem Jahr 1972 wurden damals von Sydney Pollack mitgefilmt. Das Material wurde jahrzehntelang im Safe von Warner Music gelagert – zuerst gab es technische Probleme, dann Rechtsstreitigkeiten. Jetzt endlich ist der Film zu sehen, zusammengefügt von Alan Elliott. Das Viennale-Publikum war begeistert, es flossen Glückstränen.

Mehr dazu in Action, aber ohne Klappe

Woody Allen muss offenbar sein

Woody Allen ist 83 Jahre alt. Die Viennale zeigte mit „A Rainy Day in New York“ seinen 50. Film. Amazon hatte ihn zuvor wegen der „#MeToo“-Debatte ein Jahr lang zurückgehalten, und der männliche Hauptdarsteller Timothee Chalamet hat sich offiziell distanziert und seine Gage gespendet. Wenn man den Film gesehen hat, bekommt man eine Ahnung davon, warum: Er ist himmelschreiend sexistisch, in jeder Hinsicht. Man hätte doch Woody Allen einfach einmal auslassen können, oder, Viennale?

Mehr dazu in Woody Allens Sturheit

Wo die Hüterin der Bienen herrscht

Der preisgekrönte Dokumentarfilm „Honeyland“ entführte das Viennale-Publikum in einen der entlegensten Winkel Europas und zeigt das Leben einer starken Frau im Einklang mit ihren Bienen. Voller Wärme und Humor und mit außerordentlich schönen Bildern ist der Film eine Parabel über die drohende Zerstörung der fragilen Beziehung zwischen Mensch und Natur. Man hörte angesichts der Bilder schwelgende Seufzer vom Kinopublikum.

Mehr dazu in Die unglaublichsten Bilder einfangen

Komödie ohne Hoffnung

In seinem Film „It Must Be Heaven“ (Dt.: „Vom Gießen des Zitronenbaums“) stellt Elia Suleiman Fragen nach den Mechanismen von Identitätssuche im Bezug auf den Heimatbegriff. Ausgehend von Nazareth über Paris, New York und wieder zurück begibt sich ein stummer Beobachter für den Film in absurde Situationen und fragt: Wie viel Palästina steckt in der Welt? Ein ungewöhnlicher und und ungewöhnlich erhellender Glücksfall von einem Film.

Mehr dazu in Stiller Mann mit Hut

Sturm und Blähungen

Ein Leuchtturm, abgeschottet vom Rest der Welt, lotst Schiffe in Sicherheit – und seine Wärter in die Irre: Robert Eggers’ „The Lighthouse“ ist ein düsteres Schwarz-Weiß-Spektakel, das sich irgendwo zwischen „Dracula“ und „The Hangover“ bewegt. Denn während der Horror an den Protagonisten nagt, ist der Alltag der Leuchtturmwärter vor allem von Suff und Blähungen gezeichnet. Ein geradezu idealtypischer Film für die Viennale (mit Stars und trotzdem künstlerisch wertvoll), der selbstredend auch ins reguläre Kino kommt – und zwar noch Ende November.

Mehr dazu in Ein leuchtender Albtraum

Geistergeschichte aus dem Meer

Von der Liebe, vom Meer und vom Tod: Mati Diops kühnes Debüt „Atlantique“ verbindet Sozialdrama, Krimi und Geisterfilm zu einer übernatürlichen Erzählung über die raue Wirklichkeit Jugendlicher im Senegal. Im Gespräch mit ORF.at erklärte die Regisseurin, warum sie den Film genau so erzählen musste. In Cannes wurde sie dafür mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. In Wien staunte das Publikum.

Mehr dazu in Kollektiver Selbstmord

Szene aus „Martin Eden“
© Viennale
„Martin Eden“: Rechts mit Narbe Hauptdarsteller Luca Marinelli; eine Reise ins politisch gebeutelte Nachkriegsitalien

Die Tragödie eines Aufsteigers

Zum Finale zeigt Sangiorgi die ambitionierteste italienische Produktion des Jahres: Regisseur Pietro Marcello verlegt Jack Londons tragischen Entwicklungsroman über den Emporkömmling „Martin Eden“ ins politisch gebeutelte Nachkriegsitalien. Für Hauptdarsteller Luca Marinelli gab es in Venedig die Coppa Volpi, den Preis für den besten Schauspieler. Für die Viennale war „Martin Eden“ ein würdiger Abschluss.

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